Podcast

Zeitschleifen. Geschichte fast forward
Der Podcast des Münchner Stadtmuseums – jetzt überall, wo es Podcasts gibt!
Täglich neue Debatten, Themen und Krisen – wie soll man in diesen turbulenten Zeiten den Überblick behalten? Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Darum geht es in der ersten Staffel von "Zeitschleifen", dem Podcast des Münchner Stadtmuseums. Relevant, relatable und mit erstaunlichen Parallelen – die sechs Folgen bieten kompaktes Wissen und eine historische Einordnung zu Themen, die uns als Gesellschaft gerade (wieder) bewegen.
Verfügbar unter anderem auf Spotify | Apple Podcasts | YouTube Music | Amazon Music
Trailer zu "Zeitschleifen. Geschichte fast forward":
Realitätsflucht oder Selbstfürsorge? Rückzug in turbulenten Zeiten
Folge 1
Sport, Binge-Watching, Meditation – kurz: Rückzug. Sind das wirklich die besten Antworten auf den Dauerkrisenmodus, in dem wir uns befinden? An belastenden Nachrichten mangelt es zurzeit nicht: Klimakrise, Kriege oder Inflation sind nur einige Beispiele. Viele von uns strugglen damit, sich täglich neuen katastrophalen Meldungen auszusetzen. Wie finden wir einen gesunden Umgang damit, ohne uns zu überfordern oder uns aus der Realität zu verabschieden? Bei der Suche nach Lösungen hilft ein Blick in die Geschichte.
Gemeinsam mit Kunsthistoriker Dr. Nico Kirchberger, dem Leiter der Sammlung Grafik und Gemälde des Münchner Stadtmuseums, werfen wir einen Blick auf das Ende des 19. Jahrhunderts – eine Zeit, in der die Industrialisierung Städte schnell wachsen ließ und die Menschen sich mit den vielen technischen Neuerungen oft stark überfordert fühlten. Der Maler Karl Wilhelm Diefenbach wandte sich vom hektischen Stadtleben ab und suchte eine neue Lebensweise in der Natur. Diefenbachs Abkehr von der Gesellschaft brachte aber auch Probleme mit sich. Sozialpsychologe Dr. Fabian Hess von der Friedrich-Schiller-Universität Jena erklärt, wie Krisen unsere Gemeinschaft auch stärken können.
Shownotes
Inhalt
[00:00] Einleitung
[05:52] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Dr. Nico Kirchberger, Leitung der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
[17:27] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Dr. Fabian Hess, Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
[22:36] Zusammenfassung und Ausblick
[24:57] Goodie
Abbildungen / Verweise
Karl Wilhelm Diefenbach, Du sollst nicht töten, Gemälde, 1903
Georg Pettendorfer, Der Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach, Fotografie, um 1885, Münchner Stadtmuseum
Quellen
Zitatcollage
https://www.youtube.com/watch?v=ldsnOk-q-f8
https://www.youtube.com/watch?v=wqyOv4Smy-U
https://www.youtube.com/watch?v=muvIzr2lRc4
https://www.youtube.com/watch?v=n_G96bGEyxI
https://www.youtube.com/watch?v=1hMkhx69ESg
https://www.youtube.com/watch?v=muvIzr2lRc4
Studien
https://www.rheingold-marktforschung.de/gesellschaft/deutschland-auf-der-flucht-vor-der-wirklichkeit/
https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2022/pdf/2022-12-05-Wanderungsverluste-der-Staedte-erreichen-das-hohe-Niveau-der-1990er-Jahre.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Weiterführende Ressourcen
- Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
- Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, erhältlich im Online-Shop
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum(at)muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Anna Scholz
Redaktion: Carolina Torres, Janina Rook, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkription
Anna Scholz, Host
Dr. Nico Kirchberger, Leitung der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
Dr. Fabian Hess, Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Anna Scholz, Host
Wenn mir alles zu viel wird – zu viel Arbeit, zu viele Sorgen und vor allem zu viele schlechte Nachrichten – dann steige ich ins Auto. Ich manövriere meinen kleinen, schwarzen Kia durch den Hamburger Westen, fahre auf die A7, Richtung Norden, bis die großen Backsteinhäuser kahlen Bäumen und weiten Feldern weichen. Weiter geht’s auf Landstraßen und irgendwann biege ich auf einen schlammigen, unbefestigten Weg ein. Am Ende dieser Fahrt wartet jemand auf mich, dem das ganze Weltgeschehen nicht egaler sein könnte. Er hat lange, schwarze Haare, treue, braune Augen – und keine Daumen, mit denen er endlos doomscrollen könnte.
Wenn ich hier auf der Pferdekoppel ankomme, ist mein Handy im Flugmodus. Keine Angst, das wird hier kein Pferdepodcast. Es geht vielmehr um ein Gefühl, das viele von uns womöglich teilen. Für euch ist die Pferdekoppel vielleicht der Wald, die Berge oder der Moment, wenn ihr aufs Rennrad steigt. Ein Ort oder eine Aktivität, bei der ihr euch komplett rausnehmen könnt, nur für euch seid. Sobald ich die ersten Atemzüge Landluft einatme und mein Pflegepferd mit seinen warmen Nüstern meine Taschen nach seiner Begrüßungskarotte absucht, kann ich die Welt da draußen für ein paar Stunden vergessen. Die Welt, die gerade ungefähr so klingt:
Stimmengewirr
Was am erstaunlichsten ist: Keine dieser Krisen ist so richtig neu. We’ve been here before.
Stimmengewirr
Aber ist das so, dass sich Geschichte wiederholt?
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren. Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Im Moment, so scheint es, schwingen wir zurück in schon mal dagewesene, düstere Zeiten: Auf den Straßen marschieren wieder Nazis, Frauen müssen um ihre Rechte kämpfen, die Inflation treibt die Preise durch die Decke, Menschen sind erschöpft und voller Sorge, dass Maschinen ihre Arbeitsplätze wegnehmen, parallele Krisen verlangen uns alles ab. Das gab es doch alles schonmal. Aber sind wir dieser Pendelbewegung einfach ausgeliefert?
Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen, hallo! Ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. In der ersten Staffel von "Zeitschleifen" soll es um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen – aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Wenn ich hier so samt Pferd durch die Natur streife, dann ist für eine kurze Weile alles gut, ich bin voll im Hier und Jetzt. Ein Moment, an dem ich gerne festhalten würde, denn ich würde mich schon zu den 59 Prozent der Deutschen zählen, die sich von den Krisen der Gegenwart überfordert fühlen. Diese Zahl kommt aus einer repräsentativen Studie des Rheingold Instituts aus dem Jahr 2023. Und ganz ehrlich, ich bin ein bisschen überrascht davon, dass es nicht 100 Prozent sind. Das liegt vielleicht daran, dass in derselben Studie nur 39 Prozent angegeben haben, sich überhaupt noch ausführlich über das Weltgeschehen zu informieren. Das heißt, über die Hälfte der Bevölkerung informiert sich nicht mehr – oder eben nur noch oberflächlich!
Als Journalistin kann ich die Nachrichten nicht einfach abstellen, ich will das auch gar nicht, aber ich kann diesen Reflex, sich nicht mehr informieren zu wollen, irgendwie auch verstehen. Es ist einfach zu viel! Zu viele Kriege, zu viele Bomben, zu viele Rechtspopulist*innen, zu viele durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen, zu viel Leid. Und viele haben das Gefühl, sowieso nichts tun zu können. Deswegen verstehe ich auch, dass 68 Prozent der Bevölkerung, also mehr als zwei Drittel der Deutschen, dem Rheingold Institut gesagt haben: Ich habe lieber meine Ruhe, ziehe mich zurück und konzentriere mich auf mich selbst. Im Fitnessstudio, beim Besteigen eines Berges oder im Stall hat man wenigstens noch das Gefühl von Selbstwirksamkeit, also etwas bewirken zu können. Wenn es dem Pferd gut geht, geht es auch mir gut.
Ich habe auch schon häufig darüber nachgedacht, raus aufs Land zu ziehen. Raus aus der stressigen, lauten Großstadt, in der die hohen Häuser so eng stehen, dass man weder einen Sonnenauf- noch -untergang sehen kann. Während der Corona-Pandemie haben mir viele Deutsche vorgemacht, wie es geht. Großstädte in Deutschland haben 2021 so stark an Bevölkerung verloren wie zuletzt 1994, das haben Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ergeben. Das heißt, mehr Menschen sind von der Großstadt raus aufs Land gezogen und weniger Menschen haben den Sprung vom Land in die Großstadt überhaupt erst auf sich genommen.
Überforderung, Abwendung und Rückzug also – aber wohin führt uns das, wenn der Fluchtinstinkt kickt, wir uns dem Trubel entziehen und damit in gewisser Weise vielleicht auch der Realität? Kann das nicht auch gefährlich werden? Und können wir das angesichts der vielen politischen und gesellschaftlichen Probleme überhaupt bringen? Darüber sprechen wir heute, in dieser Folge. Und um diese Fragen zu beantworten, pendeln wir jetzt einmal 140 Jahre in die Vergangenheit, als die Menschen sich schon mal dachten: I’m out.
Es ist das Jahr 1890. Stell dir vor, du gehst die Kapuzinerstraße im Süden Münchens entlang. Arbeiterviertel. Auf der Straße ist es eng, durch die Industrialisierung kann München gar nicht so schnell wachsen, wie Arbeiter in die Stadt ziehen. Überstürzt hochgezogenen Mietskasernen dominieren die Straße, enge, hohe Häuser mit kleinen Fenstern, aus denen Wäscheleinen gespannt sind. Die Straße ist je nach Wetterlage staubig oder matschig, es ist wahnsinnig laut. Kinder toben herum, Männer unterhalten sich auf dem Weg in die Fabrik, in den Werkstätten wird gehämmert und gesägt, ein Pferdewagen rumpelt über die unebene Straße. Du guckst in die Gesichter der Menschen, die dir begegnen, sie wirken gehetzt, abgeschlagen und erschöpft. Die Luft ist schwer und eine Mischung aus Kohlenrauch und Abwasser beißt in deiner Nase.
Nicht weit von hier entfernt, nur ein paar Hundert Meter weiter östlich, in der prachtvollen Maximilianstraße, ändert sich das Stadtbild: Männer im Gehrock und Frauen in Korsetts flanieren den Bürgersteig entlang, betrachten Schmuck, Porzellan und edle Hüte in den Schaufenstern. Kutschen fahren vorbei, der Duft von frisch gebackenem Brot und Kaffee liegt in der Luft. Die Stimmung ist locker und entspannt.
München ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Ort, an dem man den rasanten gesellschaftlichen Wandel der damaligen Zeit auf vielen Ebenen beobachten kann. Sie ist nämlich nicht nur Arbeiterstadt, sondern auch eine der führenden europäischen Kunstmetropolen. Künstler aus der ganzen Welt – und auch schon einige Künstlerinnen – zieht es an die Akademie der bildenden Künste, um sich ausbilden zu lassen. Der Jugendstil, eine kunstgeschichtliche Epoche, die als eine Gegenbewegung zum konservativen Historismus und der Industrialisierung verstanden wurde, hat hier seine Wiege. Der Jugendstil steht für eine Verschönerung des harten, grauen Alltags durch verspielte, von der Natur inspirierte Motive und Linien. Denn auch die Intellektuellen und Künstler*innen leiden unter dem schnellen Wachstum der Stadt, sie atmen dreckige Luft ein und spazieren an einer verschmutzten Isar. Viele von ihnen versuchten, der Krise etwas entgegenzusetzen, indem sie sich wieder mehr der Natur zu- und von der Stadt abwenden. Aber was hat das gebracht? Um mir das genauer anzugucken, habe ich mir Hilfe geholt.
Dr. Nico Kirchberger, Leiter der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
Mein Name ist Nico Kirchberger und ich betreue hier im Stadtmuseum die Sammlung für Grafik und Gemälde. Also die Sachen, die flach an die Wand kommen, im Endeffekt.
Anna Scholz
Dr. Nico Kirchberger ist Kunsthistoriker und Sammlungsleiter am Münchner Stadtmuseum. Hier bin ich richtig, wenn ich die Zusammenhänge der Vergangenheit verstehen will. In riesigen Sammlungen wird hier Geschichte konserviert, damit wir den Alltag unserer Vorfahren besser verstehen können.
Nico Kirchberger
Es geht mir nicht darum, irgendwelche Blockbuster Ausstellungen mit bekannten Namen der Kunstgeschichte zu machen, die ohnehin sehr teuer natürlich sind und schwer zu realisieren sind, sondern das, was da ist, die Sammlung zu sichten, zu erforschen, Schätze unbekannte Perlen zu heben, aber auch zu vermitteln.
Anna Scholz
Hier im Museum gibt es nicht nur Gemälde und Drucke, auch Mode, Möbel und Alltagsgegenstände erzählen von einer anderen Zeit. Mit Nico steige ich ein in die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die sich immer stärker verändernde Stadt einige Münchner*innen so sehr herausgefordert hat, dass sie letztlich mit einem Rückzugsreflex reagiert haben. Ähnlich, wie wir es heute auch erleben.
Nico Kirchberger
Das heißt, man hat sich der vegetarischen Lebensweise zugewendet, einer pazifistischen Lebensweise auch. Man hat sich bewusst aus den Städten zurückgezogen. Man hat sich dort in Kommunen dann organisiert, hat selbst als Selbstversorger im Endeffekt Gemüse und Obst angebaut.
Anna Scholz
Kommt euch das bekannt vor? Und ja, ihr habt richtig gehört, Vegetarismus gab es damals schon – auch wenn im 19. Jahrhundert bestimmt auch viele Arbeiterfamilien häufig unfreiwillig vegetarisch essen mussten. Bewusster Vegetarismus war etwas für ganz bestimmte Kreise, Intellektuelle und Künstler*innen, die sich zudem auch einem "zurück zur Natur" als Antwort auf die Industrialisierung verschrieben hatten. Rückzug also.
Nico Kirchberger
Das prominenteste Beispiel ist sicher der Karl Wilhelm Diefenbach, der als eigentlich aus einem gutbürgerlichen Elternhaus stammte und in München eine ganz traditionelle klassische Ausbildung zum akademischen Maler abgeleistet hat, der dann allerdings ja, wie er selbst sagt, sein Erweckungserlebnis hatte, oder dass ihm die Augen aufgingen.
Anna Scholz
An Karl Wilhelm Diefenbach kann man gut sehen, wie ein erstes Hinwenden zur Natur zu einer ausgewachsenen Realitätsflucht wird. Diefenbach wurde 1851 in der Kleinstadt Hadamar geboren und absolvierte als junger Mann eine Ausbildung an der Akademie der Bildenden Künste in München. Er infizierte sich mit Typhus, lag für Monate im Krankenhaus und musste sein Leben lang unter den Folgen einer misslungenen Operation leiden. Das Einzige, was ihm zumindest kurzfristig half, war eine Traubenkur – dabei isst man über Wochen nur Trauben und das macht man heute aus guten Gründen nicht mehr. Danach hörte er auf, Fleisch, Alkohol, Kaffee und Tabak zu konsumieren. Doch damit nicht genug: 1882 hatte er, so ist es überliefert, beim Anblick des Sonnenaufgangs ein spirituelles Erweckungserlebnis – und verstand sich von da an als Prophet.
Nico Kirchberger
Und er erkannte, dass er einen anderen Lebenswandel komplett ganzheitlich einschlagen müsse und sich dann nicht nur anders gekleidet hat. Also sprich ganz unkonventionell, barfuß oder auch mit Kutte bekleidet hierdurch durch Schwabing gelaufen ist, sondern eben auch von der Ernährung, wie gesagt bewusst auf Fleisch verzichtet hat und auch den Fleischkonsum angeprangert hat. In vielen Vorträgen, die er dann gehalten hat in München und die dann irgendwann auch als er der Obrigkeit zu radikal wurde, seine Ansichten dann verboten wurden. Also dann durfte er da gar keine Vorträge halten und seine Lebensweisen wieder wiedergeben.
Anna Scholz
Das heißt, er ist nicht nur ausgestiegen, sondern er hat so richtig missioniert.
Nico Kirchberger
Ja, bei ihm kommt dieser missionarische Eifer dazu, oder seine Ausstrahlung. Er hat ja Jünger im Endeffekt auch um sich gesammelt, eine Kommune gegründet, erst mit seiner Familie und ein paar Aussteigern.
Anna Scholz
Ist Karl Wilhelm Diefenbach der Grund, warum Vegetarier*innen und Veganer*innen wie mir heute noch unterstellt wird, zu viel zu missionieren? Das ist ein Thema für einen anderen Podcast. Diefenbach trat aber nicht nur gegen Fleischkonsum und für Naturverbundenheit an – zwei Missionen, bei denen ich mitgehen kann. Diefenbach war auch gegen die Großindustrie, gegen "Pillendreher" wie er sie nannte – heute würde man "big pharma" sagen. Damals war aber die Pharmaindustrie wirklich sketchy. Es gab noch viele Snake-Oil-Verkäufer – heute sind das Instagram-Scammer, die uns unnötige Wundermittel verkaufen – Ecstasy kam als Diätpille auf den Markt… Skepsis war durchaus angebracht. Auch das "Establishment" war Diefenbach im Dorn im Auge. "Die da oben" ist so ein Schlagwort, das wir heute immer wieder aus gewissen realitätsflüchtigen bis verschwörungsgläubigen Kreisen hören. Da sprechen wir aber später nochmal drüber. Gleichzeitig gibt es auch mehr als berechtigte Kritik an Menschen, die den Kapitalismus durchgespielt haben, wie Jeff Bezos und Elon Musk. 1885 kehrte Diefenbach jedenfalls dem konservativen München den Rücken.
Anna Scholz
Also heute würde man ja vielleicht nicht mehr überrascht sein, wenn so ein Künstler sehr exzentrisch auftritt und barfuß vielleicht durch die Großstadt läuft. Aber damals war das überraschend, oder?
Nico Kirchberger
Er war Stadtgespräch. Also jeder kannte ihn, auch wenn man ihn nicht gesehen hat. Er wurde sofort karikiert. In dem Simplicissimus beispielsweise gibt es Karikaturen auf ihn. Auch er gibt natürlich fotografische Aufnahmen, auch damals schon, als man sich die lange, wallende Mähne, vollbärtig.
Anna Scholz
Ganz kurz: Mit Simplicissimus ist nicht der Youtube-Kanal gemeint, sondern eine satirische Wochenzeitschrift. Quasi die "Titanic" des 19. Jahrhunderts. Wir verlinken euch ein Bild von Diefenbach in den Shownotes, den Vergleich zu Jesus könnt ihr dann selbst ziehen.
Nico Kirchberger
Kohlrabi Apostel. Also diesen Spitznamen hat man ihm dann auch in München gegeben. Und da wusste jeder, wer gemeint ist.
Anna Scholz
Und das war noch einer der netteren Spitznamen. Dafür haben ihn seine Anhänger "Meister" genannt, mit denen lebte er in einer Kommune im Isartal, in Höllriegelskreuth. Aber auch hier war er nicht frei von den Zwängen der Gesellschaft: Die Freikörperkultur, die sowohl die Kinder als auch Erwachsenen in der Kommune lebten, sorgte für Stress mit den Behörden und auch, dass Diefenbach sein jüngstes Kind rein pflanzlich ernährte, brachte ihm Ärger ein. Er zog weiter nach Wien, gründete eine neue Kommune, in der es allerdings strikt hierarchisch zuging. Diefenbach sah sich nach wie vor als Propheten. Er war allerdings weniger barmherzig, sondern führte einen sektenähnlichen Kult an, in dem seine Jünger ihm zu gehorchen hatten. Sie mussten ihrem "Meister" Tagebucheinträge über ihre Aktivitäten vorlegen, Alleinspaziergänge in die Stadt waren verboten, genauso wie erotische Beziehungen – mit Ausnahmen für Diefenbach natürlich, der mit Monogamie genauso wenig anfangen konnte wie mit allen anderen "gesellschaftlichen Zwängen". Schwierig, muss ich sagen, aber auch classic Sektenführer.
Wichtig ist aber auch, sich Diefenbachs Kunst anzusehen. Denn vor allem seine späteren Werke waren Symbole seiner Überzeugungen, eine Weiterführung seiner missionarischen Reden, für die er einst in München bekannt war.
Nico Kirchberger
Wenn er beispielsweise einen steinzeitlichen Jäger zeigt, der einen Hirsch erlegen möchte, dann lässt er im Hintergrund eine geisterhafte Figur auftauchen, die aussieht wie Gottvater, also ein alttestamentarisch, der alte alttestamentarische Gott, der allerdings doch im Endeffekt seine Physiognomie trägt und dem Jäger zuruft "Du sollst nicht töten".
Anna Scholz
Das Gemälde hat eine mystische, fast bedrohliche Stimmung, über die Hälfte des Bildes wird von der gottähnlichen Erscheinung eingenommen, die in Grautönen gemalt ist und den "ertappten" Jäger im hellen Licht erscheinen lässt. Der Hirsch, in der Mitte des Bildes, blickt flehend in den Himmel. Auch der Titel des Bildes ist "Du sollst nicht töten". Wir verlinken euch eine digitale Version in den Shownotes, aber wer sich das Bild im Original angucken möchte, kann das noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, als Teil der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" tun. Und obwohl – oder vielleicht, gerade weil – Diefenbach so eine kontroverse Figur war, war seine Kunst schon damals sehr beliebt. Man kann sich von Diefenbach sicher was abschauen, auch in unserer heutigen Zeit: Wie möchte ich mich ernähren, wie möchte ich Beziehungen führen und wer soll Teil meines inner circle sein? Alles Fragen, die man sich gut mal stellen kann.
Nico Kirchberger
Es ist ja, wir sollten es als Inspiration nehmen umzudenken. Also jeder für sich selber, was für ihn der eigene, wirklich richtige Lebensentwurf ist. Das kann ein Denkanstoß sein.
Anna Scholz
Diefenbachs Rückzug aus der industrialisierten Gesellschaft und seine Hinwendung zur Natur hatte zweischneidige Effekte. Auf der einen Seite konnte er so seine Lebensphilosophie konsequent leben und Gleichgesinnte anziehen. Seine Kommunen waren Experimente, die im Chaos der Industrialisierung alternative Lebensentwürfe und eine Art "Ausstieg" boten. Auf der anderen Seite isolierte er sich und seine Anhänger von der Mehrheitsgesellschaft, was dazu führte, dass seine Ideen – also die, die sinnvoll waren – in einer Nische verblieben. Und sein Kontroll-freakiger Kult wäre der damaligen, sowieso schon gespaltenen, Gesellschaft auch nicht gerade zuträglich gewesen.
Anna Scholz
Wäre er jemand, den man heute als Querdenker bezeichnen würde? Oder ist das zu gemein?
Nico Kirchberger
Nein, das würde ich… ich meine, in gewisser Weise sicherlich. Das müsste man wirklich gezielt dahingehend untersuchen. Es gibt sicherlich Tendenzen.
Anna Scholz
Ich finde, man sieht am Beispiel von Diefenbach sehr gut, dass Rückzug ein wichtiger Schritt zur Selbstfindung sein kann, aber eben auch die Gefahr birgt, den Kontakt zur Realität und damit auch die gesellschaftliche Wirksamkeit zu verlieren. Wie können wir es heute also besser machen? Wir beenden unsere Zeitreise und setzen unsere Nachforschungen im Heute fort. Mit einem weiteren Experten, der uns bei dieser Frage weiterhelfen kann.
Dr. Fabian Hess, Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Mein Name ist Fabian Hess.
Anna Scholz
Fabian Hess ist Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ihn habe ich gefragt, ob er diesen starken Rückzugsreflex auch aus wissenschaftlicher Sicht beobachtet. Und seine Antwort ist ein klassisches: Jein.
Fabian Hess
Was aber in der Sozialpsychologie schon immer wieder gefunden wird, ist, dass Menschen sich unter Bedrohung stärker ihren Gruppen zuwenden, also quasi auf einer individuellen Ebene sagen "Dieses Thema ist so groß, das kann ich alleine überhaupt gar nicht bewältigen. Ich finde da kein und keine Umgangsform damit. Ich allein kann daran nichts ändern." Dass es einen Klimawandel gibt zum Beispiel. Und dann quasi zu den Gruppen sich stärker zuwenden, die ihnen generell schon wichtig sind.
Anna Scholz
Das kann etwas total Positives sein. Dazu zählt ja jede Person, die sich in Sportvereinen engagiert, sich aktivistischen Gruppen oder einer Partei anschließt, ein Ehrenamt aufnimmt, oder die einfach im Freundes- und Familienkreis einen guten Austausch findet und sich so weniger alleine fühlt. Tatsächlich haben in der Rheingold-Studie auch ganze 60 Prozent angegeben, Kraft aus einer sozialen Gemeinschaft zu schöpfen. Hier kann es aber natürlich auch sein, dass sich Menschen Gruppen anschließen, die gesellschaftlich eher destruktiv sind und z.B. Verschwörungserzählungen verbreiten.
Fabian Hess
Also Verschwörungsideologien geben uns das Gefühl von Wert. Also wenn wir Teil von so einer Verschwörungscommunity sind, also nicht die Verschwörer, sondern diejenigen, die das aufgedeckt haben, die erkannt haben, wie es eigentlich ist, dann gibt uns das einen extremen Selbstwert Boost. Also dann haben wir so das Gefühl, die anderen sind die Schlafschafe, die nichts verstehen. Aber wir sind quasi die die kleine Gruppe der Eingeweihten, die schlauer sind als der Rest, die besser Bescheid wissen und die auch mutiger sind als die anderen.
Anna Scholz
Oder eben: Jünger und Prophet. Sich Verschwörungsideologien zuzuwenden kann also darin begründet sein, Sicherheit in Gruppen zu suchen. Gleichzeitig ist es aber auch eine extreme Form von Realitätsflucht und sicherlich auch die gefährlichste. Ein Beispiel dafür wäre etwa der Sturm auf das Capitol in Washington im Januar 2021, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen und zahlreiche verletzt wurden. Dieser Angriff war dadurch ausgelöst worden, dass Donald Trump – damals gerade abgewählter, heute wiedergewählter Präsident der USA – die Verschwörungserzählung verbreitet hat, die demokratische Partei hätte die Wahl gestohlen und eigentlich sei er der rechtmäßige Präsident der USA nicht Joe Biden. Eine Lüge.
Das ist eine extreme Art, mit Krisen umzugehen. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die in Anbetracht von Krisen eher die "Vogel-Strauß-Taktik" fahren. Also: Kopf in den Sand.
Fabian Hess
Manche Menschen finden auch einen Umgang, dass sie quasi von vornherein dieses Problem von sich wegschieben und dann gar nicht so in ein starkes Bedrohungserleben kommen, weil sie schon auch von Anfang an eine gewisse Verleugnungsstrategie fahren und quasi dann sagen: Ach, das ist gar nicht so ein großes Problem, oder? Das betrifft zwar schon Menschen, aber nicht mehr mich, sondern vielleicht irgendwelche späteren Generationen.
Anna Scholz
Und dann gibt es ja auch einfach Menschen, die sich der Probleme zwar bewusst sind, aber lieber auf der Couch die neueste Netflix-Serie angucken – und diesen Rückzugswunsch kenne ich persönlich auch. Bei meinen zwölften Gilmore-Girls-Rewatch warten bestimmt keine unangenehmen Überraschungen auf mich und ich kann mich ein bisschen entspannen. Damit gehöre ich sicherlich – zumindest phasenweise – zu den 68 Prozent, die in der Rheingold-Studie angegeben haben, sich lieber ins Private zurückzuziehen. Aber ziehen sich wirklich so viele von uns raus? Das wären ja über zwei Drittel der Bevölkerung!
Fabian Hess
Also ich würde sagen: Einerseits gibt es Rückzugsbewegungen in der Gesellschaft und gleichzeitig gibt es auch Politisierungen. Und auch die Wahlbeteiligung steigt ja gerade irgendwie von Wahl zu Wahl immer stärker an, was dagegen spricht, dass Menschen sich komplett rausnehmen aus politischen Prozessen.
Anna Scholz
Stimmt. Anfang 2024 zum Beispiel, da sind in ganz Deutschland Hunderttausende Menschen gegen Rechts auf die Straße gegangen. Anscheinend wissen wir doch instinktiv, dass wir in Gemeinschaft die größten Chancen haben, Krisen zu überstehen. Und wer sich akut überfordert fühlt, oder am liebsten sein Handy wegschmeißen und in eine Hütte im Wald ziehen will, für den gibt es einen wissenschaftlich begründeten Vorschlag:
Fabian Hess
Dann ist der Rat ganz einfach, sich Gruppen im nahen Umfeld zu suchen, die den eigenen Interessen entsprechen, die den eigenen Wertevorstellungen entsprechen und in denen man sich engagieren kann.
Anna Scholz
Da haben wir heute einen entscheidenden Vorteil gegenüber Karl Diefenbach und seinen Jüngern: Wir sind viel besser vernetzt und haben – theoretisch – die Möglichkeit, in kurzer Zeit online nach passenden Gruppen für uns zu suchen.
Und ja, gerade in den Wirren des Internets fühlt es sich manchmal erst recht so an, als wäre man den ganzen Krisen auf der Welt hilflos ausgeliefert und ja, es gibt genügend "Life Coaches" da draußen, die dafür plädieren, dass wir uns lieber nur auf uns selbst konzentrieren sollten, uns selbst optimieren, aber:
Fabian Hess
Aber, denke ich, ist ein schlechtes und auch ein falsches Signal, dass das so auch nicht die Realität wieder wiedergibt, sondern wir haben auf verschiedensten Ebenen Einflussmöglichkeiten und sollten die nutzen und uns die dann auch vor Augen führen, welche Effekte sie dann auch haben können.
Anna Scholz
Also, ich fasse mal zusammen: Rückzug ist kein grundsätzliches Problem, sondern eine natürliche Reaktion auf Überforderung. Er kann Raum schaffen, um persönliche Ressourcen zu regenerieren – und genau das Gefühl habe ich ja, wenn ich ein paar Stunden am Stall verbringe. Entscheidend ist jedoch, dass er nicht zur dauerhaften Vermeidung wird. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Krisenzeiten oft mit Rückzugsbewegungen einhergehen, die sowohl Chancen als auch Gefahren bergen. Karl Wilhelm Diefenbachs Einsatz für Vegetarismus und Naturverbundenheit können wir als Denkanstoß für alternative, klima- und tierfreundliche Lebensmodelle sehen. Gleichzeitig führte aber seine radikale Abkehr von der Mehrheitsgesellschaft auch dazu, dass diese Ideen nicht ihren Weg in die Breite geschafft haben. Und vielleicht war diese Abkehr auch ein Grund dafür, dass er ein bisschen craycray geworden ist und angefangen hat, seine Anhänger*innen zu tyrannisieren. Da hat vielleicht auch das Korrektiv gefehlt.
Es kommt also – auf persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Ebene – auf eine Balance an. Wir können uns also ruhig Phasen des Abstandnehmens gönnen, und dann auch wieder zur Reflexion und der aktiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Zeit zurückkehren. So brennen wir einerseits nicht aus und vermeiden andererseits aber auch ein Gefühl der Ohnmacht. Und wenn wir das denn wollen, können wir so auch gemeinschaftliche Lösungen vorantreiben.
Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie reimt sich. Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch zukünftig Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit Feminismus und Geschlechterrollen. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Werke von Karl Diefenbach findet ihr digital in den Shownotes und analog noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich". Hier ist das Münchner Stadtmuseum der größte Leihgeber mit 300 Objekten aus seiner Jugendstilsammlung – dem Herzstück des Museums. Schaut doch mal vorbei!
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Carolina Torres und das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums, Autorin dieser Folge bin ich, Anna Scholz.
Um noch mit etwas Leichtem zu enden: Falls ihr es nicht nach München in die Ausstellung schafft, dann vielleicht nach Capri? Dort hat Karl Diefenbach die letzten Jahre seines Lebens verbracht und bis heute gibt es dort das "Museo Diefenbach" im Kloster Certosa di San Giacomo. Und obwohl Diefenbach ein weirder Dude mit teils auch kritischen Ansichten war so klingt dieses Museum nach einem sehr friedlichen, sehenswerten Ort.
Nico Kirchberger
Dieses Kloster ist ein Ruhepol. Man kann sich eigentlich alleine durch die Räume bewegen. Fenster stehen offen, Türen stehen offen, Schwalben fliegen durch und mittendrin hängen dann die meistens sehr, sehr großformatigen, also wirklich Meter großen Visionen von Diefenbach, die in Capri dann vor allem das Meer zeigen und geisterhafte Figuren, die aus dem Meer, aus der Gischt emporsteigen und sich erheben.
Anna Scholz
Warst du da schon mal?
Nico Kirchberger
Ja, deswegen. Ich bin auch ganz begeistert. Einer aus eigener Erfahrung, ein Reisebericht und eine Empfehlung. Wenn man dort ist, sollte man, darf man, kann man da wirklich mal eintauchen und sich da mit dieser Welt beschäftigen.
Ein Schritt vorwärts, drei zurück? Feminismus und Geschlechterrollen
Folge 2
Bei vielen Trends würde man sich wünschen, dass sie nie mehr wiederkehrten, darunter: Hüfthosen, Korsette – und ganz grundsätzlich die Diskriminierung von Frauen. Doch es scheint so, als würde die Gesellschaft derzeit bei letzterem wieder Rückschritte machen.
Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode / Textilien des Münchner Stadtmuseums, gibt Einblicke in die Zeit um 1900, als sich die Frauen gerade (wieder einmal) des Korsetts entledigt hatten: Lose Reformkleider erlaubten es, sich frei zu bewegen. Sie waren aber gleichzeitig auch ein Akt der Rebellion, was nicht alle Menschen gut fanden. Bereits zu dieser Zeit entwickelte sich der Antifeminismus, der auch gegenwärtig wieder zunimmt. Prof. Annette Henninger von der Philips-Universität Marburg erläutert, wo dieser Backlash seinen Ursprung nahm, warum aktuelle Phänomene wie der Trad-Wive-Trend problematisch sind und wie sich dagegen ankämpfen lässt.
Shownotes
Inhalt
[00:00] Einleitung
[05:00] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode / Textilien des Münchner Stadtmuseums
[15:38] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Prof. Annette Henninger, Professorin für Politik und Geschlechterforschung an der Philips-Universität Marburg
[25:26] Zusammenfassung und Ausblick
[28:10] Goodie
Abbildungen / Verweise
Damenkleid, um 1905, Münchner Stadtmuseum
Gesellschaftskleid, um 1900/03, Münchner Stadtmuseum
Richard Riemerschmid, Damen-Kostüm, 3-teilig, 1901, Münchner Stadtmuseum
Desbuisson & Hudelist, Damen-Kostüm, 2-teilig, um 1900, Münchner Stadtmuseum
Damen-Kostüm, 2-teilig, um 1906/07, Münchner Stadtmuseum
Das Buch „Die Antifeministen: Ein Buch der Verteidigung“ von Hedwig Dohm gibt es hier: https://archive.org/details/dieantifeminist00dohmgoog/mode/2up
Quellen
Zitate
https://x.com/TheProgressives/status/837251412459458560?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E837251412459458560%7Ctwgr%5E351f4dd4e2e6d2683c037cfc93fb3ea6aa0d512b%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fkontrast.at%2F7-gruende-warum-feminismus-auch-heute-noch-notwendig-ist%2F
https://x.com/rick_sonnens/status/1856605563443990634
https://www.youtube.com/watch?v=gtoR2vAguz4&t=122s
https://www.youtube.com/shorts/eeSowvLyIf4
https://www.youtube.com/@TheBallerinaFarm/shorts
https://www.youtube.com/watch?v=V5aJFioY1pc&t=7s
Studien
https://www.weforum.org/publications/global-gender-gap-report-2024/
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/11/lagebild-geschlechtsspezifische-gewalt.html
https://www.zeit.de/politik/deutschland/umfragen-bundestagswahl-neuwahl-wahltrend
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/oesterreich-fpoe-chef-kickl-will-mit-oevp-reden-und-kanzler-werden,UZCno4z
Weiterführende Ressourcen
- Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
- Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, erhältlich im Online-Shop
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum(at)muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Anna Scholz
Redaktion: Carolina Torres, Janina Rook, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkription
transcript
Anna Scholz, Host
Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode / Textilien des Münchner Stadtmuseums
Prof. Annette Henninger, Professorin für Politik und Geschlechterforschung an der Philips-Universität Marburg
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Zitat von Janusz Korwin-Mikke, polnischer EU-Abgeordneter
"And of course women must earn less than men. Because they are weaker, they are smaller and they are less intelligent, they must earn less."
Anna Scholz, Host
Das ist kein Audio-Schnipsel aus den 1950er Jahren, auch wenn ich mir das ganz doll gewünscht habe. Nein, er ist von 2017. Da hat der polnische EU-Abgeordnete Janusz Korwin-Mikke im EU-Parlament zu einer Tirade gegen Frauen angesetzt. Frauen seien schwächer, kleiner, weniger intelligent, und müssten deswegen weniger Geld verdienen als Männer. So eine öffentlich vorgetragene Diskriminierung von einem Politiker war 2017 noch relativ neu und damals umso erschreckender. Doch irgendwie passiert das immer öfter, oder? Dass es weniger Scham gibt, sich abwertend gegenüber Frauen zu äußern? Erst im Herbst 2024 stellte ein CDU-Politiker ganz unironisch das Frauenwahlrecht wieder in Frage. Er postete auf der Plattform "X": "Sollte es so sein, dass Frauenstimmen den politischen Heiratsschwindler Robert H. ins Kanzleramt hieven und damit Deutschland über die Klippe, muss über das Frauenwahlrecht inoffiziell, über anti-emotionalen Demokratieunterricht offiziell nachgedacht werden." Er unterstellt den Frauen also, sie fänden alle Robert Habeck süß und träfen daher keine "vernünftigen" – in großen Anführungsstrichen – Entscheidungen. Mich macht das alles so müde. Warum fühlt sich Feminismus an wie ein Schritt vorwärts, drei zurück?
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren. Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Im Moment, so scheint es, schwingen wir zurück in schon mal dagewesene, düstere Zeiten: Wir erleben einen sogenannten antifeministischen Backlash. Was das genau ist, darüber sprechen wir gleich. Klar ist auch: Diesen Backlash, oder eben Widerstand, haben auch schon viele Feminist*innen vergangener Generationen erlebt. Aber sind wir dieser Pendelbewegung einfach ausgeliefert?
Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen, hallo! Ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. In "Zeitschleifen" soll es um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen – aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Eine meiner größten Schwächen, oder "toxic traits", wie man im Internet sagt, ist, dass ich regelmäßig in den Strudel von Social-Media-Kommentarspalten gerate. Es zieht mich dann immer tiefer rein, in die Abgründe des virtuellen menschlichen Miteinanders, wie ein Unfall, bei dem ich nicht weggucken kann. Was mir in letzter Zeit auffällt, ist, mit wie viel mehr Selbstverständlichkeit gewisse Männer ihre Misogynie in die Welt posaunen. Da werden mit Klarnamen, offenem Profil und Profilbild die wildesten Beleidigungen gegen Frauen und queere Menschen kommentiert und mein Gefühl sagt mir: Das wird immer mehr.
Aber mit Gefühlen lässt sich wenig belegen, ich will ja auch nicht gleich "hysterisch" werden – das wird Frauen ja gerne vorgeworfen. Deswegen vielleicht so: Laut dem Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums stagniert die globale Entwicklung zur Gleichstellung. Dieser Report analysiert jedes Jahr die Lücke, die in der Gleichstellung der Geschlechter klafft. Dafür werden verschiedene, soziale Indikatoren berechnet, z.B.: Wie viele Frauen gehen Lohnarbeit nach, wie viele Frauen studieren an Universitäten, oder wie unterscheidet sich die Lebenserwartung der Geschlechter. Bis Männer und Frauen weltweit die gleichen Chancen haben werden, dauert es diesen Berechnungen nach noch 131 Jahre. Bis zur wirtschaftlichen Gleichstellung wird es sogar noch länger dauern. Und ja, Deutschland hat diesen sogenannten Gender Gap "schon" zu 80 Prozent geschlossen, aber auch bei uns gibt es Entwicklungen, die mir gerade Sorgen bereiten. Und bei einer geht es um Gewalt.
Straftaten gegen Frauen und Mädchen sind im Jahr 2023 nämlich in allen Bereichen angestiegen. Das geht aus dem "Lagebild geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten" des BKA hervor. Im Schnitt wird in Deutschland jeden Tag ein Femizid verübt, also eine Frau oder ein Mädchen getötet, weil sie eben eine Frau oder Mädchen sind. Alle drei Minuten erlebt eine weibliche Person in Deutschland häusliche Gewalt, jeden Tag werden hierzulande mehr als 140 Frauen und Mädchen Opfer einer Sexualstraftat. Wenn ich diese Zahlen lese und höre, wird mir schlecht. Vor allem, weil es ja einen Rückschritt bedeutet, es gab schon mal weniger Gewalt. Deswegen frage ich mich: Woher kommt das? Was macht man in Zeiten, in denen die eigenen Rechte in Gefahr sind? Und wie schafft man es, in solchen Zeiten nicht den Mut zu verlieren? Lasst uns für die Antworten auf diese Fragen doch mal in eine Zeit reisen, in denen es mit den Frauenrechten noch richtig mau aussah.
Stell dir vor, du lebst als junge Frau im Jahr 1900 in einem Münchner Arbeiterviertel. Du bist gerade 19 geworden und wohnst noch mit deinen Eltern und drei Geschwistern in einer beengten Mietwohnung. Ein Auszug kommt erst in Frage, wenn du einen Mann gefunden hast, der dich heiratet. Anders kannst du es dir auch gar nicht leisten. Du gehst zwar jeden Tag für zwölf Stunden arbeiten – du bist Näherin in der Textilfabrik – aber deinen Lohn musst du zuhause an deine Familie abgeben. Du arbeitest schon seit fünf Jahren in der Fabrik, nach sechs Jahren Schule war deine Ausbildung mit zwölf Jahren abgeschlossen. Aufs Gymnasium dürfen nur Jungs gehen und für die Schule für "höhere Töchter" muss man aus den richtigen Kreisen kommen. Aber da lernt man sowieso nur Dinge, die man als Ehefrau braucht. Du hättest gerne studiert, Sprachen gelernt, die Welt entdeckt. Nach der Arbeit musst du deiner Mutter im Haushalt und bei der Versorgung deiner kleinen Geschwister helfen. Wenn die im Bett sind, nähst du ein Kleid für deine Nachbarin, für ein wenig Taschengeld. Das Kleid soll ein schickes Korsett haben, so wie es in Mode ist. Die Nachbarin hat dir erzählt, dass einige Frauen aus höheren Kreisen jetzt bewusst weite Kleidung tragen und auf das Korsett verzichten. Ihr habt beide über diese Dummheit gelacht: Wie wollen diese Frauen denn einen Mann finden?
Um 1900 ist die Lage der Frau in Deutschland noch ziemlich düster: Frauen durften nicht wählen, nicht aufs Gymnasium gehen, Rollenbilder waren auf Ehe und Haushalt beschränkt und sie waren vollständig von Männern abhängig. Aber gleichzeitig rollte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die erste Welle des Feminismus, die deutsche Frauenbewegung, heran. Louise Otto-Peters gilt als Begründerin dieser Bewegung, sie hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem für bessere Bildungschancen und gesellschaftliche Teilhabe eingesetzt – und: Sie gründete die erste nationale Frauenorganisation in Deutschland. Sie legte den Grundstein für vieles, was wir im 21. Jahrhundert als selbstverständlich ansehen.
Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode / Textilien des Münchner Stadtmuseums
Es ist für mich eher so eine Bewegung, dass sich Frauen ihrer Situation und ihrer Rolle bewusstwerden und entweder sich dagegen auflehnen oder aber eben weiterhin damit sozusagen konform gehen.
Anna Scholz
Das ist Dr. Isabella Belting. Sie hat Geschichte und Literatur studiert und leitet heute die Sammlung Mode und Textilien des Münchner Stadtmuseums. Und die Mode der Zeit wollen wir uns hier mal genauer ansehen. Sie kann nämlich durchaus als Symbol für gesellschaftlichen Wandel gesehen werden – und sie zeigt uns die Lebensrealität von Frauen. Müssen sie enge Korsette tragen? Ihre Körper in vorgegebene Muster pressen? Dürfen sie frei atmen? Sich frei bewegen? Die Wahl der Kleidung steht gerade in den vergangenen Jahrhunderten für mehr als individuellen Style. Und dabei wird Isabella mir in dieser Folge helfen.
Also, zurück zur Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert. Die Frauenbewegung steckt in den Kinderschuhen und das sieht man auch an den Modetrends – es gab nämlich zwei gegensätzliche:
Isabella Belting
Es gab die ganz konservative Modelinie, die hauptsächlich aus Paris kam. Das hieß, dass die Damen ein sehr, sehr enges Korsett tragen mussten. Das war die sogenannte Sans-Ventre-Linie, also Sans-Ventre heißt ohne Bauch, der wurde weggedrückt durch das Korsett.
Anna Scholz
Diesen Trend gingen aber nicht alle Frauen mit:
Isabella Belting
Dazu gab es parallel dann ab 1900, 1903 oder 1905 die Reformkleidbewegung, die sozusagen auf das Korsett verzichten wollte. Das waren dann lose, fallende Stoffe und Gewänder, die die Taille sozusagen freilassen sollten. Die Frau sollte frei durchatmen können.
Anna Scholz
Diese Reformkleider waren aber nicht nur irgendwelche losen Gewänder, also schon gar nicht in den gehobenen Kreisen der Gesellschaft.
Isabella Belting
Die Jugendstilmode ist auf jeden Fall ähnlich wie diese ganzen Elemente auch im Kunsthandwerk, dass es eben diese Naturbewegung gab. Es gab diese Wellenlinien und diese Schnörkel und diese Naturverbundenheit mit Blumen und Blüten und allen möglichen in der Richtung.
Anna Scholz
Wie genau das aussah, könnt ihr euch noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" ansehen. Isabella hat Reformkleider aus der Sammlung des Münchner Stadtmuseums dort ausgestellt und im Vergleich gibt es dort natürlich auch Korsettkleider aus der Zeit. Wir verlinken euch aber auch Bilder in den Shownotes.
Isabella Belting
Das Korsett besteht ja schon seit vielen Jahrhunderten in der Damenmode, muss man sagen. Die letzte große Phase war dann zum Beispiel im Rokoko gewesen. Danach fiel das Korsett in der Empire-Mode, dann kam es wieder im Biedermeier, dann fiel auch zwischendrin wieder das Korsett, dann kam es wieder in der Sans-Ventre-Linie um 1900 und fiel durch die Reformmode. Das heißt, man beobachtet in der Mode sehr schön, wie das Korsett immer wieder modern ist und dann immer wieder aufgebrochen wird durch freiheitliche Gesinnungen, aber eben doch immer auch wiederkehrt.
Anna Scholz
Ihr erinnert euch an das Bild mit dem Pendel: Das kann man in der Mode richtig gut beobachten, weil hier die Pendelschläge besonders eng getaktet sind. Genauso wie die Hüfthosen in den letzten Jahren viel zu schnell wieder gekommen sind, ist auch das Korsett über viele Jahrhunderte immer wieder im Trend.
Isabella Belting
Genau, der Umbruch ist wirklich sehr, sehr kurze Zeit und es ist eben interessant zu sehen, dass in den Zeiten, wo das Korsett getragen wird, eine oft konservative Haltung in der Gesellschaft ist, siehe auch die Fünfzigerjahre, man wollte nach dem Krieg endlich wieder Ordnung haben und natürlich auch Disziplin, die Wirtschaft wurde wieder aufgebaut und die Frauen wurden wieder zum hübschen Aushängeschild der Männer.
Anna Scholz
Das Korsett steht also für konservative Strömungen, für Disziplin und die "traditionelle" Rolle der Frau, deren Platz im Haushalt ist und deren größte Errungenschaft es ist – weil es auch so ziemlich die einzige Möglichkeit für ein sicheres Leben ist – einen Mann zu finden, der sie heiratet. Ich weiß nicht, wer von euch den "Tradwives"-Trend verfolgt – über dessen Hintergründe sprechen wir auch später noch – da geht es ja um eine Romantisierung der traditionellen Hausfrauen-Rolle. Und da höre ich irgendwie oft von Frauen, wie wichtig es sei, sich für seinen Mann schön anzuziehen und zu stylen, auch wenn man nur das Klo putzt. Und vor über 100 Jahren war das einfach essenziell.
Isabella Belting
Und gerade um 1900 war ja die Frau der besseren Gesellschaft darauf aus, eine gute Partie zu machen, also einen wohlhabenden Mann zu heiraten und das hatte man eben doch eher im Blick mit einem schönen Korsett und einem tollen, engen Kleid als mit diesen oft sackartigen Reformkleidern, sage ich jetzt mal.
Anna Scholz
Diese "sackartigen" Reformkleider waren durchaus ein Akt der Rebellion. Zum einen ging es den Frauen, die diese Kleider trugen, um Gesundheit und so banale Dinge wie: atmen können und sich nicht die Organe abzuschnüren. Aber sie waren natürlich auch ein Signal, dass sie sich nicht nur als "hübsches Beiwerk" definierten. Und wer damals Reformkleider trug, musste ein ganz schön dickes Fell haben – vielleicht kann man das vergleichen mit Frauen, die sich heute nicht mehr die Beine oder Achselhaare rasieren.
Isabella Belting
Sie wurden natürlich aufs Korn genommen, diese ganze Reformmode wurde aufs Korn genommen, es gibt also Karikaturen, wo eben eine Enggeschnürte sich halb totlacht über eine in Reformkleid und dass sie auf die Weise doch nie Familie und Kinder haben wird, also das war schon auch mit einer gewissen Bissigkeit verbunden, aber das ist in der Mode ganz oft der Fall, dass es karikativ behandelt wird.
Anna Scholz
Das heißt, es war dann aber schon ein mutiges Statement, wenn man diese Kleider getragen hat.
Isabella Belting
Ja, also es war zumindest ein Statement, dass man gegen diese konservativen Strömungen sozusagen darauf gepfiffen hat und dass es einem wichtig war, dass man sich frei bewegen kann und gesund ist, also ein gesundes Leben führt, aber es war wirklich eine relativ übersichtliche Gruppe von Frauen, die das gemacht hat, das muss man dazu sagen.
Anna Scholz
Die Frauen, die dieses "Statement" gewagt haben, waren häufig Künstlerinnen oder Künstlergattinnen, Frauen aus der gehobenen Gesellschaft.
Isabella Belting
Das waren also, wenn die Damen der besseren Gesellschaft, sprich, also auch ein gewisser intellektueller Hintergrund musste da dahinter sein, damit man sich bewusst wurde über Gesundheit und überhaupt über das ganze Problem der Korsetts wirklich Bescheid wusste, durch Ärzte, durch Reformer oder durch diese Freikörperkultur, die ja in der Zeit aufkamen.
Anna Scholz
Das Reformkleid hat sich schließlich nicht durchgesetzt, aber es hat kurz für Unruhe in der Gesellschaft gesorgt.
Isabella Belting
Also immer, wenn das Korsett fiel, hatte die Gesellschaft, die konservative Gesellschaft das Gefühl, jetzt hält das Laster Einzug, weil eben das Korsett weg ist, was einen Menschen diszipliniert und Halt gibt.
Anna Scholz
Und auch wenn es Reformkleider nicht geschafft haben, der Freiheitskampf der Frauen nahm ab 1900 richtig Fahrt auf.
Isabella Belting
Es gab feministische Strömungen, die Suffragettenbewegung, dass Frauen das Wahlrecht bekommen, setzt ja Anfang des 20. Jahrhunderts ein.
Anna Scholz
Denn die Frauen damals hatten natürlich auch noch viel größere Probleme als das Korsett: Sie durften nicht wählen, waren sozial und wirtschaftlich abhängig von Männern, der Zugang zu höherer Bildung war ihnen größtenteils verwehrt. Und natürlich gab es auch damals das Problem der Gewalt gegen Frauen – nur hat man nicht so offen darüber gesprochen wie heute.
Frauen, die sich gegen diese Missstände auflehnten, bekamen starken Gegenwind zu spüren. Das ist wenig überraschend, denn diese Frauen waren ja mit die ersten, die gegen einen über Jahrhunderte etablierten Status Quo kämpften. Aber dass zu der Zeit, genauer: 1902, schon das Wort "Antifeminismus" geprägt wurde, hat mich dann aber schon überrascht. Die Schriftstellerin Hedwig Dohm veröffentlichte in dem Jahr ein Buch mit dem Titel "Die Antifeministen", in dem sie die Gegner der Frauenbewegung in vier Kategorien einsortierte und während ich es gelesen habe, habe ich immer wieder gedacht "ja, so weit weg von heute ist sie gar nicht". Das waren ihre Kategorien: Erstens: Die "Altgläubigen", die "an den lieben Gott" und Naturgesetze glauben, zweitens, die "Herrenrechtler", die mehr auf ihre Rechte als Mann pochten, als auf irgendwelche himmlischen Gebote, drittens, die "praktischen Egoisten", die in der Emanzipation Nachteile für sich selbst befürchten und viertens, die "Ritter der mater dolorosa", also die "Ritter der schmerzensreichen Mutter". Damit meint sie vor allem Mediziner, die Frauen aufgrund ihres "schwächeren Körpers" und der monatlichen Blutung Gleichberechtigung absprechen. All diese Typen charakterisiert sie mit viel Ironie und sehr smart, man kann das Buch inzwischen online gratis lesen, wir verlinken es euch in den Shownotes.
Wenn wir also so in die Vergangenheit blicken, wird klar, dass a) Frauenbewegungen schon immer viel Widerstand erlebt haben und b) selbst kleine Akte des Widerstands, wie das Tragen von Reformkleidern, zu einem Symbol für Freiheit und Gleichberechtigung werden können. Die Frauen der ersten Frauenbewegung hatten den Mut, konservative Strömungen herauszufordern, indem sie ihre Stimme und ihr Handeln gegen den Status quo setzten. Und bevor wir klären, wie man jetzt gerade den Mut nicht verliert, lasst uns doch mal schauen, woher der aktuelle Backlash überhaupt kommt. Um das zu klären, springen wir mal zurück ins Jetzt.
Prof. Annette Henninger, Professorin für Politik und Geschlechterforschung an der Philips-Universität Marburg
Mein Name ist Annette Henninger. Ich bin Professorin für Politik und Geschlechterforschung an der Philips-Universität Marburg jetzt seit 2009.
Anna Scholz
Annette Henninger hat von 2017 bis 2020 ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu Antifeminismus geleitet, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Antifeminismus wird also auch auf staatlicher Ebene bereits als so großes Problem wahrgenommen, dass die Erforschung mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Und Annette Henninger nimmt mich direkt mit an den Anfang des aktuellen Backlashes. Den Ursprung nimmt die Welle Mitte der 90er im Vatikan – als Reaktion auf die vierte Weltfrauenkonferenz der UN in Peking, wo das sogenannte "Gender Mainstreaming" beschlossen wurde. Dahinter steckt ein umfassendes Konzept zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung von Frauen und Mädchen weltweit. Dass der erzkonservative Vatikan damit Probleme hat, überrascht mich nicht – und diese Art des Widerstands kommt zu der Zeit auch noch nicht so wirklich in der breiten Masse an.
Annette Henninger
Und es änderte sich dann in Westeuropa mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien.
Anna Scholz
Der Populismus fällt ja auch hier in Deutschland und Österreich auf fruchtbaren Boden. Während ich Anfang Januar diese Podcastfolge vorbereite, ist die AfD in den Umfragen für die deutsche Bundestagswahl 2025 auf Platz zwei und in Österreich wurde gerade Herbert Kickl, der Chef der rechts-außen Partei FPÖ mit der Regierungsbildung beauftragt. Dass Parteien wie die AfD und FPÖ an Zuspruch gewinnen, liegt auch daran, dass immer mehr Menschen Ängste haben. Vor dem Abstieg, davor, dass ihnen etwas weggenommen wird.
Annette Henninger
Wir haben ja spätestens seit den Hartz-Reformen 2005 so eine große Debatte über Prekarisierung, dass Leute eben nicht nur wirklich handfest materiell sich einschränken müssen, sondern eben, dass auch die Ängste vor einem sozialen Abstieg sehr zugenommen haben und im Zuge dessen eben Menschen anscheinend anfälliger werden für alle möglichen Krisen- und Bedrohungsnarrative. Das ist ja auch in der Forschung ein Erklärungsversuch für den aktuellen Aufstieg für Antifeminismus.
Anna Scholz
So ein bisschen der Klassiker: Ich habe Angst, dass mir etwas weggenommen wird und suche die Schuld dafür bei Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen, die sowieso schon diskriminiert werden. Antifeministische Überzeugungen werden dann im Laufe der folgenden Jahre durch populärwissenschaftliche Bücher und konservative Medien, die schon früh vor einer "Genderideologie" warnen, immer weiter verbreitet.
Annette Henninger
Also es geht um eine weltanschauliche Gegenbewegung gegen Feminismus. Also Antifeminismus richtet sich ja nicht in erster Linie gegen Frauen, also das kann schon dazu führen, dass einzelne Frauen da auch persönlich angegriffen werden. Antifeminismus richtet sich gegen Feminismus.
Anna Scholz
Der vielen rechts-konservativen Kräften ein Dorn im Auge ist.
Annette Henninger
Da geht es wirklich auch dezidiert darum, feministische Errungenschaften quasi zurückzufahren.
Anna Scholz
Ein aktuelles Beispiel sind Abtreibungsrechte in den USA: Dort ist Abtreibung nun in vielen Bundesstaaten wieder illegal, es wird den Frauen dort also die Entscheidung über ihren eigenen Körper abgesprochen – mit teils lebensgefährlichen Folgen. Und diese Entwicklung kommt auch daher, dass Feminismus eine Bedrohung für Menschen ist, die im traditionell patriarchalen System Erfolg hatten.
Annette Henninger
Und Feminismus ist ja durchaus eine Denkbewegung und auch politische Strömung, die für einen Abbau von Herrschaftsverhältnissen eintritt, die für eine Liberalisierung und auch eine Entnormierung von Geschlechterverhältnissen eintritt.
Anna Scholz
Das heißt also: Feminismus stellt traditionelle Rollen infrage und bricht sie auf. Zum Beispiel die Rolle der Frau, die ökonomisch und sozial abhängig von ihrem Mann ist, wie das vor 100 Jahren noch der Fall war. Dadurch werden Frauen unabhängiger und eben auch mächtiger. Sie kriegen auch ein Stück vom Kuchen ab. Aber Kuchen ist nun mal endlich, darum müssen andere abgeben. Und das schmeckt natürlich nicht allen. Viele Menschen haben Angst vor dem sozialen Abstieg und suchen Schuldige, oder sie fühlen sich in ihrem geordneten Weltbild bedroht.
Antifeminismus wächst also auf einem populistischen Nährboden. Aber sind diese Einstellungen wirklich nur in rechts-konservativen Teilen der Bevölkerung zu finden? Tatsächlich gibt es noch keine belastbaren Daten, die zeigen könnten, wer genau antifeministische Einstellungen teilt. Die Fallstudien von Annette Henninger und ihrem Team zeigen, dass sie in allen sozialen Schichten vorkommen. Zwei Indikatoren gibt es aber:
Annette Henninger
Die meisten gesellschaftlichen Gruppen, sind progressiver geworden und es gibt aber zwei Milieus, die da so ein bisschen nach rechts abgebogen sind. Und das sind Teile der gebildeten Oberschicht und Teile so traditioneller sogenannte abgehängte Arbeitermilieus.
Anna Scholz
Dass es nicht so klar zu sagen ist, wer jetzt genau diese antifeministischen Einstellungen teilt, fällt auch online auf. Wer ähnlich chronisch online ist wie ich, dem sind zwei große Trends nicht entgangen: Zum einen die Tradwives, die schauen wir uns gleich an, und zum anderen gibt es immer mehr problematische Männlichkeits-Influencer – wovon Andrew Tate wohl der bekannteste ist – die nicht nur traditionelle Rollenbilder predigen sondern Frauen auch aktiv abwerten. Und damit die so erfolgreich werden konnten, mussten verschiedene Phänomene ineinandergreifen, sagt Annette Henninger. Das eine spielt sich auf dem Land ab.
Annette Henninger
Die höher qualifizierten Frauen wandern ab, die jungen Männer bleiben zurück und finden dann dort vor Ort keine Partnerinnen mehr. Da gibt es ja schon länger so eine Debatte über, ich würde das aber gar nicht auf Ostdeutschland beschränken, sondern auch überhaupt ländliche Gegenden. Aber auf der anderen Seite, wenn ich mich hier so in Marburg umgucke, alte Universitätsstadt, oben auf dem Hügel haben die ganzen Burschenschaften ihre Häuser, die haben gerade auch wieder ziemlich einen Aufwind. Vor allen Dingen die rechten, teilweise auch extrem rechten Burschenschaften, die haben natürlich einen unglaublichen Aufwind gekriegt mit dem Einzug der AfD in die Parlamente. Die AfD brauchte nämlich dann auf einmal ganz viel Personal und rekrutierte das unter anderem in den Burschenschaften.
Anna Scholz
Es sind also die Herrenrechtler und die praktischen Egoisten, würde Hedwig Dohm wahrscheinlich sagen. Und die können in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommen. Das weibliche Pendant zu diesen Männlichkeitsinfluencern ist vielleicht ein anderer Trend, der auch in allen Schichten vorkommt: die sogenannten "Tradwives", also die traditionellen Ehefrauen.
Annette Henninger
Dieses Phänomen ist ein ziemliches Chamäleon. Der Tenor ist ja immer sehr stark, Feminismus, einige dieser Protagonistinnen sagen von sich auch selber, ich bin Feministin, und Feministin sein bedeutet für mich, dass ich mein Leben so gestalten kann, wie ich das möchte, und ich möchte eben gerne Hausfrau und Mutter sein. Bitte, Geschlechterkonservatismus ist ja nicht verboten in Deutschland, und jede kann ja so leben, wie sie möchte.
Anna Scholz
Es gibt da aber auch eine dunklere Seite.
Annette Henninger
Aus den USA kennt man das schon ein bisschen länger, da gibt es da sehr starke Überschneidung und Vernetzung einerseits mit christlich fundamentalistischen Akteurinnen und mit der Alt-Right, also mit der Extremrechten, also bis hin dazu, dass dann in diesen Trad-Wife-Blogs Links gesetzt werden zu extremrechten oder christlich fundamentalistischen Plattformen, oder dass eben Leute aus diesem Spektrum dann da auch als Gäste auftreten in den Blogs.
Anna Scholz
Und das ist dann schon aktiver Antifeminismus. Und die aktuelle Welle des Antifeminismus, die hier jetzt seit über zwanzig Jahren rollt, die ist richtig gefährlich.
Annette Henninger
Ja, also es ist auf jeden Fall eine Gefahr für die Demokratie, weil diese Diskurse, also Hate Speech in den sozialen Medien hat ja reale Effekte.
Anna Scholz
Der Hass, den weiblich gelesene Menschen online, aber zum Teil auch schon in Person, erleben, kann verständlicherweise extrem abschreckend wirken.
Annette Henninger
Also was Parlamentarier*innen, also vor allen Dingen Frauen, dann auch nochmal ein sexualisierter, abwertender Hate Speech sich da anhören müssen, da überlegt man sich dann schon zweimal, kandidiere ich jetzt tatsächlich nochmal, tue ich mir das für weitere vier Jahre nochmal an.
Anna Scholz
Dabei sind Bundestagsabgeordnete da natürlich noch viel besser geschützt als Aktivist*innen oder Politiker*innen auf dem kommunalen Level. Und wenn sich Menschen nicht mehr trauen, sich zu engagieren, dann hat das selbstverständlich weitreichende, gesellschaftliche Konsequenzen.
Annette Henninger
Sehr viele Themen werden dann auch der politischen Aushandlung entzogen und es wird wirklich auch ein Klima der Angst geschaffen, das eben bestimmte Menschen eben nicht gerade ermutigt, sich politisch zu betätigen. Und insofern haben diese antifeministischen Diskurse jetzt schon sehr reale Auswirkungen auf die Demokratie.
Anna Scholz
Kriegen wir jetzt noch die Kurve zu was Positiveren oder vielleicht zu was Konstruktiven? Was ist denn Ihrer Ansicht nach jetzt ein Weg dagegen anzugehen?
Annette Henninger
Ja, ich meine reden, reden, reden. Also klar, mit Maximilian Krah braucht man da nicht mehr zu diskutieren, aber ganz viele Menschen, die da noch so unentschieden daneben stehen und sich das angucken, also mit denen kann man ja durchaus ins Gespräch kommen.
Anna Scholz
Ganz kurz: Maximilian Krah ist ein AfD-Politiker und EU-Abgeordneter, der sich auf TikTok mit sehr polarisierenden Aussagen an ein junges Publikum wendet.
Also auch mal aus seiner Bubble raus vielleicht ein bisschen.
Annette Henninger
Ja, ja, unbedingt.
Anna Scholz
Auch ein Zusammenschluss ist wichtig. Spüren, dass man nicht alleine ist. Und wer dazu noch mehr Input braucht, hört nochmal in die erste Folge rein, da geht es genau darum.
Ich fasse nochmal zusammen: Wir erleben hierzulande gerade zweifelsfrei einen antifeministischen Backlash – das zeigt die steigende Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Deutschland und vor allem auch das Erstarken antifeministischer Bewegungen. Befeuert durch populistische und konservative Narrative, zielen die darauf ab, feministische Errungenschaften zurückzufahren und Geschlechterrollen zu konservieren. Eine Ursache dafür liegt womöglich in sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheiten, die Menschen anfällig für einfache Schuldnarrative machen. Populistische Rhetorik trifft auf fruchtbaren Boden und Social Media ist ein unkontrollierbarer Lautsprecher für antifeministische Influencer*innen.
Ich habe mich zu Beginn der Folge aber ja auch gefragt, ob wir zum ersten Mal einen so intensiven Widerstand gegen Feminismus erleben – und das tun wir natürlich nicht. Die Frauenbewegung hatte von Beginn an Gegner, und auch Gegnerinnen, das zeigt uns ein Blick in die Vergangenheit – und das sollte uns Mut machen. Denn genauso wie das Korsett als Symbol für traditionelle, konservative Frauenbilder, über Jahrhunderte immer wieder gekommen und gefallen ist, bis es seit den 50er Jahren – vorerst – eingemottet ist, gibt es auch im feministischen Aktivismus diese Pendelbewegungen der Geschichte. Und wer weiß, vielleicht bedeutet der aktuelle Backlash gerade auch nur, dass der nächste große Durchbruch kurz bevorsteht? So ähnlich wie es die Reformkleider zwar nicht geschafft haben, dafür gab es dann aber das Wahlrecht für Frauen, kurz darauf.
Die Geschichte lehrt uns, dass Veränderungen Zeit brauchen, Mut und Zusammenhalt erfordern. Feministische Bewegungen sollten daher gestärkt und breite gesellschaftliche Bündnisse geschlossen werden, um dem aktuellen Backlash entgegenzuwirken und eine gleichberechtigtere Zukunft zu gestalten.
Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie reimt sich. Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch in Zukunft Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit dem Thema Mensch und Maschine, und da wird es auch ein wenig optimistischer – versprochen. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Reformkleider und Korsette findet ihr digital in den Shownotes und analog noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich". Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München.
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Carolina Torres und das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums, Autorin dieser Folge bin ich, Anna Scholz.
Damit wir ein bisschen beschwingt aus der Folge rausgehen, erklärt uns Isabella noch, wie die modischen Zeitschleifen für Frauen nach der Reformkleidung so aussahen – tatsächlich haben wir das Korsett noch gar nicht so lange hinter uns gelassen.
Isabella Belting
Es waren ja die wilden Zwanzigerjahre, muss man tatsächlich sagen, und auch die sexuelle Befreiung der Frau, das war da sehr viel Selbstbestimmung und Experimente, und auch diese Zeit hat sich ja zurückgedreht, die Dreißigerjahre wurden wieder strenger, und dann dürfen wir nicht vergessen, nach dem Zweiten Weltkrieg kam wieder eine Korsettzeit, nämlich die Linie von Christian Dior, die die Frau absolut in eine sehr, sehr enge Taille steckt, und auch das Korsett war wieder absolut üblich, also kein Kleid ohne Korsett in der Zeit, das wird wieder aufgebrochen in den Sechzigerjahren, wo diese Hängerkleidchen kommen, also wir sehen, das ist wirklich ein Auf und Ab in der Mode, ich würde sagen, dass wir eigentlich seit den Siebzigerjahren, die doch durch sehr viel Farbe, Freiheit und Stilmix bis heute geschafft haben, dass wir so frei uns anziehen dürfen, wie wir wollen, dass Korsett so nicht mehr wirklich obligatorisch war.
Neue Möglichkeiten, neue Ängste? Von Dampfmaschinen und KI
Folge 3
Künstliche Intelligenz erleichtert das Leben in vielen Bereichen: ob schnelle Recherche, ein Gedicht schreiben oder Übersetzungshilfe – ihr Wissen scheint grenzenlos. Aber was bedeutet das eigentlich für die Arbeitswelt, wenn es nun etwas gibt, das schneller, effizienter und pausenlos arbeitet? Werden viele Arbeitsplätze dadurch nicht überflüssig?
Antonia Voit, Leitung der Sammlung Angewandte Kunst des Münchner Stadtmuseums, nimmt uns mit in eine Zeit, in der die Gesellschaft schon einmal vor einem ähnlichen Problem stand. Die Erfindung der Dampfmaschine nahm dem Menschen viel der körperlichen Arbeit ab und erlaubte es, beispielsweise Möbel günstiger zu produzieren und auch Einkommensschwächeren zur Verfügung zu stellen. Doch der Schub durch die Industrialisierung brachte auch beängstigende Seiten mit sich und verunsicherte viele. Der Wirtschafts- und Industriesoziologe Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen sieht Parallelen zur derzeitigen Entwicklung der Künstlichen Intelligenz.
Shownotes
Inhalt
[00:00] Einleitung
[05:16] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Antonia Voit, Leitung der Sammlung Angewandte Kunst des Münchner Stadtmuseums
[16:17] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Hartmut Hirsch-Kreinsen, emeritierter Professor für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der TU Dortmund
[24:48] Zusammenfassung und Ausblick
[26:59] Goodie
Abbildungen / Verweise
Richard Reimerschmid, Nürnberger Zimmer, 1900
Richard Riemerschmid, Deutsche Werkstätten Hellerau, Stuhl aus dem Maschinenmöbel-Programm, 1905, Schenkung Sammlung K. Barlow und A. Widmann, Münchner Stadtmuseum
Richard Riemerschmid, Kleiderschrank aus dem Maschinenmöbel-Programm, 1905, Münchner Stadtmuseum
Quellen
https://www.youtube.com/watch?v=21EiKfQYZXc
https://www.allianz-trade.de/presse/pressemitteilungen/allianz-trade-umfrage-generative-kuenstliche-intelligenz-schuert-angst-um-arbeitsplaetze.html
https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/kunstliche-intelligenz-umfrage-mehrheit-sorgt-sich-um-folgen-der-ki-12045881.html
Weiterführende Ressourcen
- Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, erhältlich im Online-Shop
- Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum(at)muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Carolina Torres
Redaktion: Carolina Torres, Janina Rook, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkription
Anna Scholz, Host
Antonia Voit, Leitung der Sammlung Angewandte Kunst, Münchner Stadtmuseum
Prof. emr. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen, Wirtschafts- und Industriesoziologie, TU Dortmund
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Anna Scholz
Hey Chat GPT, was würdest du sagen, was du besser kannst als ich?
Chat GPT
Ich kann auf viele Informationen zugreifen und sie zusammenfassen. Aber du hast die Fähigkeit, kreativ zu sein, Emotionen zu empfinden und persönliche Erfahrungen zu machen – das macht dich einzigartig!
Anna Scholz
Aber du kannst auch kreativ sein, oder?
ChatGPT
Ja, ich kann kreative Ideen und Vorschläge bieten, aber deine Kreativität ist einzigartig, weil sie aus deinen persönlichen Erfahrungen und Gefühlen kommt. Das ist etwas Besonderes!
Anna Scholz
Merkt ihr, wie ChatGPT mich hier sweet talken will? Denn seien wir mal ehrlich: Na klar kann ChatGPT – und künstliche Intelligenz generell – so einiges sehr viel besser als ich. Sie, also die künstliche Intelligenz, kann zum Beispiel über 100 Sprachen – ich nur drei, und die dritte auch eher nur mit Mühe.
Was heißt "Hilfe, nimmt die KI mir bald meinen Job weg?" auf Japanisch?
Google Translate
助けて、AI が私の仕事をす ぐに奪ってしまうのでしょうか?
Anna Scholz
Super, danke.
Ehrlich gesagt: Mir schwirrt so ein bisschen der Kopf. Gefühlt gehen die Entwicklungen so wahnsinnig schnell, dass ich fast nicht mehr durchblicke, was KI schon alles macht und wo sie überall drinsteckt. Und ich habe auch so ein wenig Technik-Fomo – im wörtlichen Sinne: Was, wenn ich das alles irgendwann nicht mehr aufholen kann und abgehängt werde?
Es ist kein Wunder, dass sich das alles wie ein Strudel anfühlt. Denn manche Expert*innen rufen gerade eine neue industrielle Revolution aus.
Andrew Ng
AI is the New Electricity. Just as electricity transformed industry after industry 100 years ago, I think AI will now do the same.
Anna Scholz
Das war Andrew Ng, einer der bekanntesten KI-Experten. Dieses Zitat ist aus einer Rede, die er beim Future Forum der Stanford Graduate School of Business gehalten hat. Und zwar schon im Jahr 2017. Damals war KI für mich nicht mehr als Science-Fiction. Und was er hier sagt, ist: KI wird einen ähnlichen impact haben wie vor mehr als 100 Jahren die Erfindung der Elektrizität. Aber stimmt das denn?
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren.
Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Gerade wirkt es so, als stünden wir wieder an einem Punkt, an dem technischer Fortschritt unser Leben nachhaltig zu verändern droht. Genau so fühlt es sich nämlich für viele an: wie eine Bedrohung. Aber stimmt das denn auch?
Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen, hallo! Ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. In der ersten Staffel von "Zeitschleifen" soll es um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen – aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Den Begriff "industrielle Revolution" assoziiere ich vor allem mit dampfbetriebenen Webstühlen und Fließbändern. Die industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts, sollte es denn eine sein, macht vor allem Schlagzeilen mit lustigen Videos und Bildern, die sie generiert hat. Zum Beispiel hat sie den Papst in eine weiße Pufferjacke gesteckt – und wer hätte gedacht, dass er’s tragen kann?
Okay, Spaß beiseite. KI kann wirklich schon richtig wichtiges und nützliches Zeug. Im Gesundheitssektor wird sie zum Beispiel dafür genutzt, MRT- und Röntgenbilder auszuwerten und Ärzt*innen dabei zu helfen, Diagnosen zu stellen oder sogar Impfstoffe und Medikamente zu entwickeln. Und jetzt macht Künstliche Intelligenz sich auch noch in der Kunst breit – ausgerechnet in der Sphäre, in der wir dachten, sie wäre nun wirklich uns menschlichen Feingeistern vorbehalten: KI schreibt Romane und Gedichte, ob als Jambus, Hexameter, Pentameter oder einem anderem Versmaß eurer Wahl. Sie malt Bilder, die sich sehen lassen können. 2024 landete erstmals ein Song, der bis auf den Text komplett von einer KI generiert wurde, in den deutschen Charts.
KI dringt gerade gefühlt in alle Lebensbereiche ein. Ich meine, autonomes Fahren und eine KI, die im Krieg Drohnen fliegt und Angriffsziele bestimmt? Creepy.
Untersuchungen zeigen, dass die Entwicklung von KI viele Menschen beunruhigt. Eine Umfrage der Allianz Trade von 2024 hat ergeben: Fast 50% der Deutschen glauben, dass Künstliche Intelligenz die Zahl der Arbeitsplätze verringern wird. Und sogar knapp über 50 % haben die Sorge, dass KI die Ungleichheit in Deutschland verschärfen wird: Gebildete profitieren, weniger Gebildete werden abgehängt. Und auch einige KI-Expert*innen sind pessimistisch gestimmt. Renommierte Forscher*innen aus dem Silicon Valley haben sich im Center for AI Safety organisiert und 2023 appelliert: "Das Risiko einer Vernichtung durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität neben anderen Risiken gesellschaftlichen Ausmaßes sein, wie etwa Pandemien und Atomkrieg."
Befinden wir uns gerade also wirklich inmitten einer industriellen Revolution? Einer, die uns gefährlich werden könnte? Und wenn ja: Was bedeutet das für uns? Wie sind Menschen vor uns damit umgegangen, dass plötzlich Maschinen Teil ihres Lebens wurden – ob sie wollten oder nicht?
Wenn ihr diesen Podcast schon mal gehört habt, dann wisst ihr, was jetzt kommt: Stellt euch vor, dass ihr eine kleine Reise durch die Zeit macht. Aus der Revolution, in der wir uns womöglich gerade befinden, zum Schauplatz einer anderen Revolution. Und zwar ins England des 18. und 19. Jahrhunderts, der Wiege der ersten industriellen Revolution. Städte wie London, Birmingham und Manchester wachsen rasend schnell, auf den Straßen eilen die Arbeiter*innen mit Ruß beschmutzten Gesichtern zu den Fabriken, aus den Schornsteinen steigt Dampf auf. Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung war die Dampfmaschine. Sie markiert den Beginn der ersten industriellen Revolution. Sie macht die Produktionen in den Fabriken effizienter und erleichtert den Transport von Rohstoffen, Waren und Produkten. Technische Fortschritte in der Landwirtschaft fördern außerdem die Produktion von Nahrungsmitteln und ersetzen die Arbeiter*innen auf den Feldern. Die wiederum pilgern jetzt in die Städte, um dort Arbeit zu finden. Die Welt wächst und wächst und wächst.
Antonia Voit, Leitung der Sammlung Angewandte Kunst, Münchner Stadtmuseum
Also England war ja das Mutterland der Industrialisierung und deshalb setzte da auch die Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen, die die Industrialisierung mit sich gebracht hat, sehr viel früher ein.
Anna Scholz
Das ist Antonia Voit. Sie leitet im Münchner Stadtmuseum die Sammlung Angewandte Kunst. Also der Bereich von Kunst, der sich mit der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen beschäftigt. Und dieser Bereich wird für uns gleich spannend, weil wir dort gut sehen können, welchen Einfluss Maschinen während der industriellen Revolution auch auf den Alltag der Menschen hatten, über die Fabriken hinaus.
Antonia Voit
Und in England bildete sich die sogenannte Arts and Crafts Bewegung, innerhalb derer die Arbeit mit der Maschine zunächst abgelehnt wurde. Also man wollte dort zurück zum Handwerk, das Handwerk hochhalten und stärken und hat die Maschine eigentlich eher verteufelt. Man hat das Ganze als geistlose Ergebnisse empfunden, was mit der Maschine produziert wurde.
Anna Scholz
Die Arts & Crafts – also Kunst und Handwerk – Bewegung war eine Kunstbewegung, die sich vor allem mit Architektur und der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen beschäftigte. Und was Antonia hier gerade beschreibt, das kommt einem doch ein bisschen bekannt vor. Die Ablehnung der Maschine, die als geistlos empfundenen Resultate.
Antonia Voit
In Deutschland hat man die Industrialisierung auch nicht durchgängig positiv gesehen. In Deutschland, gerade auch beispielsweise in München, kam es zu einer sehr starken Urbanisierung. Die Einwohnerzahl hat sich binnen 40 Jahren bis 1913 auf 640.000 vervierfacht. Es gab Wohnungsnot und Verelendung, vor allem unter den Arbeiterinnen und Arbeitern.
Anna Scholz
Durch das beengte Leben konnten Krankheiten rasend schnell um sich greifen. In München breiteten sich Ende des 19. Jahrhunderts etwa Cholera und Tuberkulose aus, viele Menschen starben. Aber auch diejenigen, die nicht in den Arbeitervierteln von Seuchen heimgesucht wurden oder in den Fabriken knechten mussten, wussten mit der neuen Technik in ihrem Leben nichts anzufangen. Etwa die Künstlerinnen und Künstler der Zeit.
Antonia Voit
Am Anfang hat sich da einfach eine wahnsinnig große Orientierungslosigkeit breit gemacht. Man hatte keinen Stil, um auf diese ganzen Neuerungen zu reagieren.
Anna Scholz
Statt mit Hand und klassischen Werkzeugen, konnten Alltagsgegenstände plötzlich mit Maschinen hergestellt und auch verziert werden. Also beispielsweise Küchenutensilien, Schüsseln, Teller und Tassen, aber auch Möbel wie Schränke, Tische und Stühle. Aber man wusste die neue Technik noch nicht so richtig einzusetzen.
Antonia Voit
Ein Beispiel ist, dass die Stilmoden unglaublich schnell wechseln und Surrogate und Imitationen Triumphe feiern. Dass Holz beispielsweise in gepresster Steinpappe imitiert wurde, Stein in Stuck, wenn nicht in Zinkblech, Bronze und Zinnguss. Und das zeigt: Es herrschte sehr viel Geschmacklosigkeit. Das wurde damals sehr stark kritisiert, und es ging dann eigentlich erst los mit dem Jugendstil, wo man auch zunächst stark auch in Deutschland auf das Handwerk gesetzt hat.
Anna Scholz
Der Jugendstil markierte dann so um 1900 eine neue Kunstepoche. Aber bis dahin waren die Resultate aus der Mensch-Maschine-Kooperation eher ein bisschen fragwürdig. Überhaupt sah die Bilanz der ersten industriellen Revolution zunächst eher mäßig aus: Die Arbeiter*innen schuften sich in den Fabriken ab und Zuhause holen sie sich Cholera. Die Oberschicht, Künstler*innen und Co, waren auch lost und wussten nicht so richtig etwas anzufangen mit dieser Revolution, die ihr ganzes Leben durchzog. Aber dann ist was Spannendes passiert.
Antonia Voit
Und dann hat aber beispielsweise Richard Riemerschmid sehr früh auch erkannt, welche Vorteile die Herstellung mit Maschinen liefert, dass man auch künstlerisch gestaltete Entwürfe kostengünstiger herstellen konnte und der breiten Masse zur Verfügung stellen konnte.
Anna Scholz
Richard Riemerschmid wurde 1868 in München geboren und wurde später zu einem der bedeutendsten Künstler des Jugendstils, der Kunstepoche, die laut Antonia Voit der Orientierungslosigkeit der Zeit endlich etwas entgegensetzen konnte. Darum schauen wir uns Riemerschmids Jugendstil-Werke etwas genauer an, weil er einer derjenigen war, die endlich einen Umgang gefunden haben mit dem Wandel, den die industrielle Revolution gebracht hat. Er kam aus der gehobenen Bürgerklasse, wie fast alle Künstler*innen der Zeit, und machte eine Ausbildung zum akademischen Maler. Er verschrieb sich aber schon bald dem Kunsthandwerk.
Antonia Voit
München galt Ende des 19. Jahrhunderts neben Paris als die führende Kunststadt Europas, und es gab natürlich auch einen gewissen Überschuss an Malerinnen und Malern. Also die konnten gar nicht alle von ihrer Arbeit gut leben. Und es war sicherlich auch mit ein Grund, warum dann viele angefangen haben auch, sich dem Entwerfen von Möbeln und anderen kunstgewerblichen Gegenständen zuzuwenden.
Anna Scholz
Riemerschmid hat Stühle und Schränke entworfen, Tapeten und Stoffe, Glasobjekte und Porzellan und sogar Teppiche und Lampen. Und was daran vor allem beachtenswert war: Er hat nicht nur für das gehobene Bürgertum gearbeitet, sondern auch für die wachsende Mittelschicht, die die Industrialisierung eben auch hervorgebracht hat.
Antonia Voit
Es waren dann nicht mehr nur Adel und Klerus die Auftraggeber, sondern das erstarkte Bürgertum wurde auch zum Auftraggeber. Es gab einen wachsenden Bedarf an Ausstattungsgegenständen.
Anna Scholz
Für dieses neue Bürgertum und vor allem auch für die neuen Produkte, die die Maschinen hervorbrachten, brauchte es einen eigenen Stil.
Antonia Voit
Also Richard Riemerschmid hat früh eben sich vom Ornament entfernt und hat beispielsweise allein die Maserung des Holzes als einzigen Schmuck seiner Möbel dann verwendet. Er hat schon 1900 an einem Wettbewerb teilgenommen für die Einrichtung eines Zimmers für einkommensschwächere Haushalte. Damals hat er den ersten Preis für die von ihm gestaltete Zimmereinrichtung gewonnen.
Anna Scholz
Dieser Wettbewerb wurde damals von der König Ludwig Preisstiftung in Nürnberg ausgeschrieben.
Antonia Voit
Es gab diesen sozialen Anspruch, auch einkommensschwächeren Haushalten Möglichkeiten einer qualitätvollen Einrichtung zu gewährleisten. Das war natürlich trotzdem, also dieses Zimmer kostete 350 Mark. Das konnte sich wahrscheinlich immer noch nicht jeder Arbeiter, jeder Arbeiterin leisten.
Anna Scholz
Wenn ihr sehen möchtet, wie das sogenannte "Nürnberger Zimmer" von Riemerschmid aussah, könnt ihr das noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München tun. Dort steht die Einrichtung als Teil der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", eine Kooperation der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
Das Schöne an dieser Entwicklung war, dass eben nicht mehr nur reiche Menschen es sich leisten konnten, einen gewissen Anspruch an ihr Leben und die Gegenstände darin zu haben. Schönheit und Ästhetik war plötzlich einer viel größeren Gruppe an Menschen zugänglich. Es fand also eine Art Demokratisierung statt.
Um 1900 herum konnte durch die schnellere und günstigere Produktion mit der Maschine auch viel mehr ausprobiert werden. Gerade im Bezug auf Alltagsgüter konnte zum Beispiel mit unterschiedlichen Materialien experimentiert werden.
Antonia Voit
Also ein Merkmal war, dass man auch sogenannte unedle Metalle verstärkt verwendet hat im Jugendstil, dass man zum Beispiel Schalen und Übertöpfe aus Kupfer und Messing hergestellt hat. Eben auch hier die Verwendung nicht so hochwertiger Materialien, um die Objekte dann einer breiteren Masse zur Verfügung stellen zu können oder eben gerade im Möbelbereich, dass man nicht mehr Möbel aus teuren, furnierten Hölzern hergestellt hat oder mit aufwendigen Schnitzereien versehen, sondern dass man sich auch da an die Fertigungsmethoden der Maschine angepasst hat und zu kostengünstigeren Objekten gekommen ist.
Anna Scholz
1905 entwickelte Richard Riemerschmid sein sogenanntes Maschinenmöbelprogramm. Das bestand aus verschiedenen Einrichtungen für drei verschiedene Einkommensklassen. Die Einrichtungen unterschieden sich in ihrem Umfang, aber auch den verwendeten Materialien. Sie waren außerdem so konzipiert, dass die Einzelteile überwiegend maschinell herstellbar waren.
Antonia Voit
Und die Besonderheit dieser Möbel war auch, dass die zum Teil bereits zerlegbar waren. Also wir zeigen in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" auch einen Schrank, der darüber Flügel schrauben. Wir zeigen den geöffnet, weil da sieht man sehr schön die im Inneren ein die im Inneren verwendeten Flügel schrauben, mit deren Hilfe man diesen Schrank ganz leicht zerlegen und wieder zusammen montieren konnte. Also das ist quasi schon das frühe Prinzip IKEA, was hier sichtbar wird.
Anna Scholz
Der Einzug der Maschinen in die Lebenswelt der Menschen hat vielen letztlich zu mehr Wohlstand verholfen. Aber: Die Anfänge waren holprig, keine Frage.
Antonia Voit
Es wurde einfach auch vieles als falsch empfunden. Man hat ja dann auch angefangen, die neuen Dampfmaschinen mit historistischen Ornamenten zu verzieren und man hat festgestellt, das geht einfach nicht zusammen. Also wir müssen uns mit den neuen Möglichkeiten auseinandersetzen und eine authentische Art des Umgangs damit finden, um in die Zukunft zu kommen und um zu zeitgemäßen Lösungen zu finden.
Anna Scholz
Okay, fassen wir mal zusammen. Die Anfänge der industriellen Revolution liefen für viele Menschen nicht so rund. Städte wuchsen zu schnell, gerade in den Arbeiter*innenviertel war es eng, laut, unhygienisch und letztlich für viele gefährlich. Aber auch in der gehobenen Gesellschaft und in Künstler*innenkreisen herrschte etwas, das Antonia Voit als Orientierungslosigkeit beschrieben hat. Und ich finde, dieses Gefühl beschreibt ganz gut, wie es vielen von uns heute, im 21. Jahrhundert mit KI geht. Ich zumindest fühle mich davon gut beschrieben. Was damals gegen diese Orientierungslosigkeit geholfen hat, war anzuerkennen, dass die Maschinen und das, was sie mit sich bringen, nicht etwas ist, das man einfach in sein bisheriges Leben integrieren kann. Irgendwann war klar: Hier fängt ein neues Kapitel an. Damit musste man umgehen lernen. Und warum dann nicht gleich auch die Vorteile embracen, die diese Revolution mit sich gebracht hat? Also zum Beispiel die Möglichkeit, mit Hilfe der Maschinen die Bedürfnisse einer neu gewachsenen sozialen Klasse zu bedienen? Denn seien wir ehrlich: Was anderes blieb den Leuten auch nicht übrig. Ob sie wollten oder nicht: Die Entwicklungen ließen sich nicht umkehren.
Eines muss man den Maschinen des 21. Jahrhunderts ja zugute halten: Sie bringen uns immerhin nicht die Cholera ins Haus. Lasst uns mal auf den Status Quo heute schauen und ein paar Vergleiche ziehen. Die Maschinen früher haben den Menschen vor allem körperliche Arbeit abgenommen, Handarbeiten, wenn man so will, also physische Prozesse. Künstliche Intelligenz dagegen, also Computersysteme, die Berechnungen vornehmen und Analysen durchführen – das sind eher kognitive Prozesse, also Informations- und Wissensprozesse, die von den Maschinen durchgeführt werden. Mit diesen Prozessen hat sich Hartmut Hirsch-Kreinsen beschäftigt.
Prof. emr. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen, Wirtschafts- und Industriesoziologie, TU Dortmund
Während die künstlichen Systeme, künstliche Intelligenz wie generell Computersysteme die Berechnungen vornehmen, die irgendwelche Analysen vornehmen und sonst was. Das sind ja alles kognitive, das sind ja Wissensprozesse.
Anna Scholz
Er ist emeritierter Professor für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der TU Dortmund.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Und ein Themenschwerpunkt war in den letzten Jahren, wie soll es anders sein, man geht natürlich mit dem Hype, der sozusagen von außen kommt, das Thema künstliche Intelligenz, und das ist es immer noch.
Anna Scholz
Ich habe Hartmut Hirsch-Kreinsen gebeten, mir dabei zu helfen, die Entwicklungen im Hier und Jetzt ein bisschen zu sortieren. Man kann sich die Maschinen von früher und heute ein bisschen wie Muskel und Gehirn vorstellen, jetzt mal ganz vereinfacht gesagt. Die Maschinen früher haben die Menschen bei körperlicher Arbeit unterstützt, während die Maschinen heute zu kognitiven Prozessen fähig sind, also sozusagen Denkprozesse. Daher auch der Name: Künstliche Intelligenz. Tatsächlich basieren einige Systeme künstlicher Intelligenz sogar in gewisser Weise auf der Nachahmung unserer Gehirne, ihrer Struktur und Funktion. Wie genau die Technik dahinter aber funktioniert, ist krass komplex.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Das wird ja ganz schnell sehr mathematisch und das ist, das ist dann, das ist ein Teil der Faszination. Wir reden hier über KI und verstehen nix davon. Um das mal jetzt ganz platt zu sagen. Das macht ja aber die Faszination aus.
Anna Scholz
Zur Wahrheit gehört aber auch: Nicht nur Laien wie ich können nicht nachvollziehen, wie die KI genau funktioniert. Auch Expert*innen haben da ihre Schwierigkeiten.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Es gibt bis heute keine Theorie darüber, wie diese Netze wirklich, wie diese neuronalen Netze wirklich funktionieren. Das ist das Riesenproblem der Explainability, also dass ich nicht in der Lage bin, wirklich zu begründen, zu erklären, warum ein System so und nicht anders beispielsweise eine Empfehlung ergibt.
Anna Scholz
Also sind die Sorgen bezüglich KI berechtigt? In gewisser Weise bedeutet das ja schon, dass die Menschen die Kontrolle über die Maschinen verloren haben.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Also genau, aber nicht außer Kontrolle in dem Sinne, dass diese Maschinen so mächtig werden, dass sie eines Tages sozusagen die Menschen dominieren und die Menschen an den Rand drängen und alles, alles gewissermaßen entscheiden. Nein, sie geraten außer Kontrolle in bestimmten Situationen, wo man nicht mehr weiß, was dann sozusagen wie welche Entscheidungen gelaufen sind oder wie man welche Entscheidungen zu bewerten hat.
Anna Scholz
Hartmut Hirsch-Kreinsen glaubt also nicht daran, dass eine Künstliche Intelligenz uns auslöschen wird. Für einen verantwortungsvollen Umgang mit ihr ist es trotzdem wichtig, dass Regulierungen implementiert werden. Dass eben zum Beispiel KI-Drohnen, die im Krieg eingesetzt werden, nicht selbstständig entscheiden, wann und wo ein Angriff stattfinden soll. Das erste KI-Strategie-Papier hat die Bundesregierung auch schon 2018 herausgebracht. Da passiert also ein bisschen was. In diesem Strategie-Papier geht es aber vor allem auch darum, die Chancen von KI zu nutzen. Denn die werden als riesig eingeschätzt.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Es gibt ganz ernst zu nehmende Technikforscher, auch Informatiker, vor allen Dingen, die sagen also wir befinden uns jetzt, was Digitalisierung und ganz speziell eben die KI Entwicklung anbelangt, an der Schwelle zu einer neuen industriellen Revolution. Gewissermaßen.
Anna Scholz
Aber was bedeutet das denn eigentlich genau, dieser Revolutions-Gedanke?
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Die Dampfmaschine war die erste Stufe und die die Elektrizität war die zweite Stufe, gewissermaßen also ein universell anwendbares, ja technisches Prinzip. Energie beispielsweise, as war der Schub von Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Und das ist jetzt am Ende, das ist das Potenzial ist ausgeschöpft. Und die die digitalen Technologien generell, das sind ja schon Thesen, die gehen weit bis in die 70er Jahre zurück, Stichwort Informations- und Computergesellschaft. Und diese Situation wird jetzt abgelöst durch eben den Fokus auf kognitive Prozesse im weitesten Sinn, durch die künstliche Intelligenz. Da würden sich sozusagen Anwendungspotenziale in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen ergeben, die bis jetzt technisch noch nicht erschlossen worden sind.
Anna Scholz
Es gibt vor allem drei Gründe für diese Entwicklung:
Erstens: Die Fortschritte bei den Systemen des maschinellen Lernens. Von Künstlicher Intelligenz wird schon seit den 1950ern gesprochen, aber in den letzten Jahren wurden nochmal wichtige mathematische und statistische Meilensteine erreicht, die die Entwicklung von Systemen wie ChatGPT und Co. ermöglicht haben.
Zweitens: Im Vergleich zu den 80ern und 90ern ist die Computerleistung, die es für solche Systeme braucht, im 21. Jahrhundert massiv gestiegen. Drittens: Durch das Internet steht den Entwickler*innen seit einiger Zeit eine unfassbar große Menge an Daten zur Verfügung, die sie brauchen, um die Systeme zu trainieren.
Die Technik hat also in den letzten 10 bis 15 Jahren einen riesigen Sprung gemacht, der uns tatsächlich, so sagen zumindest Expert*innen, in eine neue industrielle Revolution katapultiert hat. Und die strahlt auf sämtliche Lebensbereiche aus. Und eben vor allem auch in unsere Berufswelt.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Ob das jetzt im Wissenschaftsbereich ist oder ob Medien im Medienbereich, in der Verwaltung usw., da wären, sich sozusagen Erleichterungen finden. Also routinisierte Prozesse sind relativ leicht, dann irgendwann in die Systeme überführen, ins Bild zu überführen. Aber das hat halt sozusagen natürlich Implementationsprobleme, das zieht neue Kosten nach sich, das braucht neue Kompetenzen usw. das sind alles Bremsen gegen diese Entwicklung. Aber das heißt nicht, dass diese Entwicklung gebremst wird. Aber entscheidend ist dann immer, wer und wie es wie es dann angewendet wird.
Anna Scholz
Das heißt also: Die Potenziale sind da, aber in der Realität läuft die Entwicklung noch sehr viel langsamer, als es manchmal den Anschein macht. Zumindest hat das eine Studie ergeben, die Kolleg*innen von Hartmut Hirsch-Kreinsen 2024 veröffentlicht haben und an der er auch mitgearbeitet hat.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Die haben sozusagen KI in der industriellen Produktion versucht zu identifizieren und da gab es bestenfalls Experimentiersituationen, Pilotprojekte, wieder eingestellte Vorhaben und so, also das ist sehr, sehr zurückhaltend, weil eben der Abgleich mit den vorhandenen Systemen, man hat die Kompetenzen nicht, es fehlen die Daten, die Datenpflege ist sehr teuer usw.
Anna Scholz
All diese Baustellen sieht man natürlich nicht, wenn man von ChatGPT eine Antwort auf eine Frage bekommt, für die man selbst erstmal stundenlang recherchieren müsste. Das erzeugt – zumindest bei mir – manchmal einen solchen Wow-Effekt, dass ich schon denke: Diesen Maschinen gehört doch die Welt. Hartmut Hirsch-Kreinsen meint: Davon sollte man sich nicht zu sehr beeindrucken lassen.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
das sind ja sozusagen diese Riesensysteme, die von Microsoft oder Google oder von Open AI oder von wem auch immer bereitgestellt werden und wo irgendwelche Serverprozesse in Gang gesetzt werden, weltweit gewissermaßen, mit einem riesen Energieaufwand. Und das, das sind Kosten, die dahinterstehen, die kann man sozusagen skalieren: Auf dieser Ebene können die gedeckt werden, aber für konkretere kleinere Anwendungen hat das nach wie vor extreme, extreme Grenzen, extreme Grenzen.
Anna Scholz
Dieser riesige Energieaufwand schlägt sich nicht nur in den Kosten nieder: Microsoft und Google haben 2024 beide bekannt gegeben, dass sie ihre Klimaziele für das Jahr verfehlen werden – nicht zuletzt wegen des massiven Ausbaus von KI-Systemen. Und es gibt noch eine weitere Sache, die man in dieser ganzen revolutionären Stimmung nicht vergessen darf:
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Was den Hype und den Schub ausmacht, da muss man natürlich dazu noch sagen: OpenAI vor anderthalb Jahren oder mehr, als die das ChatGPT vorgestellt haben, das war eine gigantische, eine gigantische PR Maschine, die da losgelaufen ist.
Anna Scholz
Das war im November 2022. Damals war OpenAI eben auch auf Investorensuche. Und das mit Erfolg: Kurz darauf hat Microsoft verkündet, nochmal 10 Milliarden Euro in OpenAI, also dem Unternehmen hinter ChatGPT, investieren zu wollen. Man darf eben auch nicht vergessen: Diese ganzen KI-Systeme sind Produkte von großen Unternehmen, die damit auch Geld verdienen wollen.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Also das muss man diese Interessen, diese Interessen, die da dahinter stehen, die ökonomischen Interessen, die so ein Prozess und so einen Hype anschieben, muss man dann natürlich sehen.
Anna Scholz
Ich denke, man kann also getrost sagen: Immer langsam mit den jungen Pferden. Auch Künstliche Intelligenz kocht nur mit Wasser. Sozusagen. Diese Revolution steht noch am Anfang. Und nichtsdestotrotz ist es eine.
Hartmut Hirsch-Kreinsen
Wobei aber allerdings sicherlich richtig ist: So der langfristige Effekt wird schon sein, dass sich da Dramatisches verändert hat.
Anna Scholz
Ich fasse zusammen. Revolutionen zu handeln, damit haben wir uns in der Menschheitsgeschichte schon immer schwergetan. Und das ist ja auch kein Wunder, solche Zeiten des Umschwungs bringen ja auch große Herausforderungen mit sich und verlangen uns einiges ab. Sie verbreiten vielleicht Orientierungslosigkeit, wie Antonia Voit vom Münchner Stadtmuseum es so schön beschrieben hat.
Mit Blick auf die Geschichte kann man sagen: Die vorangegangenen industriellen Revolutionen haben die Menschen tatsächlich überrannt, vor allem die erste, die wir uns am Anfang dieser Folge etwas genauer angeschaut haben. Aber dann haben sich irgendwann auch Potenziale entfaltet. Der Wandel durch die Maschinen in der ersten industriellen Revolution hat beispielsweise vielen Menschen zu Wohlstand verholfen, eine neue soziale Schicht geschaffen, wo es früher quasi nur Arme und Reiche gab. Menschen durften plötzlich Ansprüche haben, für viele haben sich Türen und Tore geöffnet. Oder um es etwas blumiger zu sagen: Die Menschen haben es geschafft, einen neuen Stil zu finden, nachdem sie es aufgegeben hatten, die Dampfmaschinen mit Ornamenten aus vergangenen Zeiten zu verzieren.
Vielleicht müssen wir auch noch lernen, loszulassen, und zu akzeptieren, dass da viel Neues auf uns wartet. Jetzt nicht gleich übermorgen, aber perspektivisch. Vergesst nicht, euch anzuschnallen, es könnte turbulent werden. Das bringen Revolutionen so mit sich. Aber in diesem Neuen, das auf uns wartet, können auch viele Chancen stecken.
Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie reimt sich. Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch zukünftig Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit Queerness. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Die Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" könnt ihr noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München anschauen. Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München.
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums und ich, Anna Scholz. Autorin dieser Folge ist Carolina Torres.
Und zum Schluss wie immer noch ein Goodie für euch. Wir haben ja in dieser Folge schon den Vorgänger des Prinzips IKEA ausgemacht, also erschwingliche Möbel für die Massen. Eventuell sind wir hier noch einer weiteren Sache auf der Spur:
Antonia Voit
Als wir habens beispielsweise auch im Schmuckbereich, kann man es ganz gut sehen, dass man da zuvor in der Hauptsache mit Gold und Edelsteinen, Brillanten und Diamanten gerne gearbeitet hat und im Jugendstil dann verstärkt auch mit anderen Schmucksteinen, Halbedelsteinen oder auch mit weniger teuren Metallen, etwa mit Silber.
Anna Scholz
Eventuell wurde zur Zeit des Jugendstils also auch schon das Prinzip Modeschmuck geboren.
Antonia Voit
Es gab sogar einen Künstler, der hat Eisen als Material für Schmuck verwendet. Und zum einen hat haben diese günstigeren Materialien es ermöglicht, dass man auch mehr experimentiert, weil da war nicht so viel verloren, wenn dann entweder der Entwurf nicht funktionierte oder es bei der Zielgruppe nicht ankam. Und man konnte natürlich auch für Menschen, die jetzt nicht so viel, die jetzt keinen so großen Geldbeutel hatten, Objekte herstellen und anbieten.
Gleiches Recht für alle? Queerness im Wandel der Zeit
Folge 4
Was ist die Norm, wer bestimmt sie und wie wird sie verschoben? Queerness ist heute ein selbstverständlicher Teil der Popkultur, seit 2017 ist in Deutschland die Ehe unter gleichgeschlechtlichen Paaren möglich und 2024 ist das Selbstbestimmungsgesetz für eine vereinfachte Änderung des Geschlechtseintrags in Kraft getreten: also alles auf einem guten Weg hinsichtlich der Rechte und Sichtbarkeit queerer Menschen? Nicht ganz.
Pia Singer, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums, gibt einen Einblick in die Situation queerer Menschen um 1900. Wie offen konnte damals geliebt und gelebt werden? Zwei Frauen in München stechen zu dieser Zeit besonders hervor: Anita Augspurg und Sophia Goudstikker lebten als lesbisches Paar zusammen, betrieben ein eigenes Fotostudio und waren damit sehr erfolgreich! Doch sie waren eher eine Ausnahmeerscheinung, denn nicht für alle Menschen galten dieselben Regeln. Dr. Esto Mader von der Humboldt Universität Berlin erklärt, was die Aspekte Teilhabe, Sichtbarkeit und Sicherheit auch heute damit zu tun haben und wie vielfältige Krisen bisherige Fortschritte bedrohen.
Shownotes
Inhalt
[00:00] Einleitung
[05:31] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Pia Singer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums
[16:46] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Dr. Esto Mader, wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt Universität Berlin
[26:03] Zusammenfassung und Ausblick
[28:50] Goodie
Abbildungen / Verweise
Brettspiel "Lesbisches Identitätsspiel", 1995, Münchner Stadtmuseum
Quellen
https://www.youtube.com/watch?v=ExL_iG1wkF4
Weiterführende Ressourcen
- Mehr Infos zum Atelier Elvira und zu den Porträt-Fotografien, die dort entstanden sind, findet ihr in der Sammlung Online des Münchner Stadtmuseums.
- Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, erhältlich im Online-Shop
- Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum(at)muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Carolina Torres
Redaktion: Carolina Torres, Janina Rook, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkription
Anna Scholz, Host
Pia Singer, Mitarbeiterin der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums
Dr. Esto Mader, wissenschaftliche Mitarbeiter*in am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt Universität Berlin
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Lisa
Ich weiß gar nicht mehr, wie gut meine Englischskills waren. Aber "I kissed a Girl" habe ich auf jeden Fall verstanden und es war einfach so… also so… es ist mir heiß und kalt durch meinen Körper geströmt.
Anna Scholz
Das ist Lisa. 2008 hört sie zum ersten Mal den Song "I kissed a Girl" von Katy Perry. Damals war MTV war noch ein Ding, erinnert ihr euch?
Lisa
Ich war damals auch nicht out. Ich. Ich weiß. Ich glaube, ich war 13 oder 14. Das war für mich das allergrößte Geheimnis. Und ich konnte einfach nicht glauben, dass jemand von so was Großem, Schweren, was ich in mir trage, so ein leichtes Musikvideo macht, dass etwas, was so in meinem Kopf verboten war, jetzt in einem Musikvideo gezeigt wird.
Anna Scholz
Lisa ist aus meinem Bekanntenkreis und heute 30 Jahre alt. Und sie hat mir erzählt, wie wichtig dieser Moment, dieses Lied, für sie als lesbische Frau war. Sie ist in einer kleineren Stadt aufgewachsen, wo es damals kein offen queeres Leben oder queere Spaces gab. Sie hat sich einfach nirgends wiedergefunden. Bis Katy Perry "I kissed a girl" gesungen hat. Heute sieht Lisa den Song kritisch, weil darin letztlich einen Kuss zwischen zwei Frauen als Experiment geframed wird, der nicht gleichbedeutend mit einem "Hetero-Kuss" sein könne. Damit wertet Katy Perry – bewusst oder unbewusst – Lesbischsein ab und bedient vor allem eine männliche Fantasie. Aber damals hat Lisa sich gesehen gefühlt. Und gesehen zu werden, sich selbst in anderen zu sehen, ist wichtig, ermächtigend, existenziell. Es signalisiert: Ich habe auch einen Platz auf dieser Welt.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in Sachen Sichtbarkeit von queerem Leben zum Glück einiges getan. Stars wie Kristen Stewart, Billie Eilish oder Elliot Page outen sich als homosexuell, bisexuell oder transgender. 2024 feierten allein in Köln eine Millionen Menschen den CSD, den Christopher Street Day. Seit 2017 dürfen in Deutschland Frauen Frauen heiraten und Männer Männer. Seit November 2024 gibt es das Selbstbestimmungsgesetz – das regelt, dass Trans*, inter* und nicht-binäre Personen ihren Geschlechtseintrag und Vornamen in einem einfacheren Verfahren auf dem Standesamt ändern können – ohne irgendwelche physischen oder psychischen Untersuchungen. Man könnte also meinen: Es wird so langsam.
Wenn man aber einen Blick in die Zahlen des Bundeskriminalamtes wirft, muss man feststellen: Während auf legaler und popkultureller Ebene Fortschritte gemacht werden, scheint die gesellschaftliche Akzeptanz eher zu schwinden: Seit 2010 haben sich die Straftaten gegen queere Menschen fast verzehnfacht. Und das sind nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht werden. Die Behörden gehen davon aus, dass die Dunkelziffer ziemlich hoch ist.
Driften wir zurück in eine Zeit, in der sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten wieder mehr Diskriminierung und Verfolgung drohen?
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren.
Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Gerade wirkt es so, als stünden wir wieder an einem Punkt, an dem die Rechte von Minderheiten wie Queers in Gefahr sind. Warum ist das so?
Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen. Hi, ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. Darum geht’s in der ersten Staffel von "Zeitschleifen" – um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen, aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Schauen wir uns erst einmal die Statistik des Bundeskriminalamts genauer an. Das BKA veröffentlicht jedes Jahr Zahlen zu Straftaten und ihren Motiven. Straftaten, die aufgrund "sexueller Orientierung" oder "geschlechtsbezogener Diversität" verübt werden, steigen seit mehr als einem Jahrzehnt stetig an. 2022 wurden 197 Menschen Opfer von Gewalttaten in diesem Kontext. 2023 waren es schon 212.
Die Opfer dieser Straftaten, das zeigen die Erhebungen auch, sind überwiegend queere Männer.
Wenn man den Blick geografisch ein bisschen weitet, sieht es noch düsterer aus: In Russland zum Beispiel gilt Aufklärung über LGBTQI+ schon seit 2013 als Propaganda. Es gibt dort sogar Versuche, LGBTQI+-Bewegungen als extremistisch einstufen zu lassen. Auch in Ungarn und Italien wurden unter der Führung von Viktor Orbán und Giorgia Meloni die Rechte von queeren Menschen in den letzten Jahren zunehmend eingeschränkt.
Und wenn man über den Atlantik schaut, dann sieht man dort einen frisch ins Amt zurückgekehrten Donald Trump, der schon in seiner Antrittsrede darauf zu sprechen kommt, dass es für ihn nur zwei Geschlechter gebe – Mann und Frau. Warum wird gerade so vieles von dem, was queere Menschen, Aktivist*innen und Allies seit mehr als einem Jahrhundert hart erkämpft haben, wieder infrage gestellt?
Einen Teil der Antworten auf diese Frage finden wir in der Geschichte. Lasst uns darum einmal in eine Zeit reisen, in der es noch gar keine aktivistisch queere Bewegung gab, wie wir sie heute kennen.
München, irgendwann in den 1910er Jahren. Ein kalter Nebel zieht durch die engen Gassen des Angerviertels, doch hinter den dicken Fensterscheiben des Gasthauses Schwarzfischer flackert warmes Licht. Die schweren Holztüren, dunkel geworden vom Rauch und den Jahren, öffnen sich knarrend. Drinnen umfängt dich der süßlich-herbe Geruch von Tabak, Bier und einem Hauch Parfüm.
An der dunklen Holztheke lehnen Männer in schmal geschnittenen Anzügen, Stimmen flüstern, Lachen bricht aus. Ein Klavier klimpert, jemand summt eine Melodie. Hier, verborgen hinter schweren Samtvorhängen, finden sich Männer, die sich – oder vielmehr Teile ihrer Identität – dort draußen verstecken müssen. Unter ihnen Künstler, Arbeiter oder Schauspieler.
Für ein paar Stunden in der Nacht ist der Schwarzfischer mehr als ein Wirtshaus. Es ist ein Zufluchtsort. Ein Stück Freiheit.
Pia Singer, Mitarbeiterin der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums
Das war ein bekannter Schwulentreff, der aber dann 1934 von den Nazis überfallen wurde. Also es gab da eine große Razzia, wo viele Menschen, viele Männer auch verhaftet wurden und ins Gefängnis kamen, später auch ins KZ.
Anna Scholz
Das ist Pia Singer, Kuratorin und Sammlungsmitarbeiterin im Münchner Stadtmuseum. Sie forscht und sammelt Objekte und Artefakte zur queeren Stadtgeschichte in München. Ich wollte von ihr wissen, wie Queerness um 1900 überhaupt aussah: Wie offen konnte geliebt und gelebt werden? Dabei hat Pia Singer mir dann auch vom Schwarzfischer erzählt. Aber bevor wir richtig ins Thema einsteigen, müssen wir einmal über den Begriff "queer" sprechen.
Pia Singer
Wenn wir heute von queeren Personen um 1900 sprechen, ist es eine Fremdbezeichnung, weil es den Begriff damals im Deutschen noch nicht gab und weil der Begriff queer bis Ende der 1980er Jahre auch eine Beschimpfung war für Personen, die nicht heteronormativ waren und die auch nicht in das Schema der Zweigeschlechtlichkeit gepasst haben.
Anna Scholz
Den Begriff "queer" haben sich queere Menschen dann angeeignet, quasi zurückerobert. Heute ist "queer" eine Art offener Sammelbegriff für Personen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intersexuell, non-binär und vieles mehr sind. Der Einfachheit halber sprechen wir hier auch im geschichtlichen Kontext von queeren Menschen, selbst wenn es den Begriff damals eigentlich noch nicht gab. Tatsächlich wissen wir auch gar nicht so viel über queeres Leben im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Pia Singer
Weil queere Personen einfach nichts aufgehoben haben oder sogar weitergegeben haben, was einfach Rückschlüsse auf ihr queeres Leben zulassen kann oder zulässt. Einfach, weil es damals eine sehr repressive Zeit war. Die queeren Personen hatten große Angst vor Verfolgung und vor Diskriminierung, vor Denunzierungen, weil es einfach gesellschaftlich nicht angesehen war.
Anna Scholz
In den Jahren vor und um 1900 herum wurde das Leben für Queers sogar gefährlicher.
Pia Singer
Also mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871, das war so ein Fall, wo die Homosexuellenverfolgung wieder stark zugenommen hat, weil eben der Paragraf 175 im Reichsstrafgesetzbuch eine strafrechtliche Grundlage geboten hat.
Anna Scholz
Der Paragraf 175 stellte die "widernatürliche Unzucht" zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Gefängnisstrafe. Wofür aber nun diese Verschärfung, wo doch queeres Leben sowieso schon geächtet wurde?
Pia Singer
Man kann feststellen, dass es, sobald es eine strafrechtliche Grundlage in Form zum Beispiel in Deutschland des Paragrafen 175 gegeben hat, ist die Verfolgung wesentlich stärker geworden.
Anna Scholz
Wir müssen auch bedenken, dass damals die Kirche einen noch viel größeren Einfluss hatte. Sie und ihre strengen Moralvorstellungen waren sehr mächtig zu dieser Zeit. Der Paragraf 175 kriminalisierte zwar ausdrücklich nur Sex zwischen Männern, das heißt aber nicht, dass Frauen damals mehr Rechte besaßen. Eigentlich im Gegenteil.
Pia Singer
Also weibliche Sexualität wurde einfach nicht ernst genommen und war einfach nicht bedrohlich oder wurde nicht als bedrohlich für die Gesellschaft angesehen. Und es war einfach der Gedanke prägend, dass lesbische Sexualität der Volksgemeinschaft keinen großen Schaden zufügen würde, weil lesbische Frauen nicht dauerhaft der Reproduktion entzogen wären. Und es ist eine sehr brutale Argumentation. Aber es sagt halt auch wieder sehr viel darüber aus, wie Frauenkörper als Verfügungsmasse angesehen wurden und dass halt Frauen auch schlicht keinen Anspruch hatten auf körperliche Selbstbestimmtheit.
Anna Scholz
Männern dagegen wurde ein eigener Wille zugetraut und offenbar auch die Durchsetzung dieses Willens. Darum versuchte man, ihnen mit dem Paragrafen 175 etwas entgegenzusetzen.
So oder so kann man sagen: Queeres Leben wurde um 1900 herum mindestens geächtet, es wurde bedroht, kriminalisiert und unsichtbar gemacht. Schwule Männer konnten ihre Sexualität nur in privaten Räumen oder geheimen "Szene-Treffpunkten", wie man heute sagen würde, ausleben. Wie etwa dem Schwarzfischer.
Es gab in München aber ein homosexuelles Paar, das nicht nur akzeptiert wurde, sondern große Anerkennung genossen hat, sogar vom bayerischen Königshaus. Woran das genau lag, das schauen wir uns jetzt an – denn wir können dadurch auch Rückschlüsse darauf ziehen, unter welchen Bedingungen Queerness akzeptiert und unter welchen sie zurückgedrängt wird.
Pia Singer
Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, haben sich 1886 in Dresden kennengelernt. Weil Goudstikker dort die private Malschule von Amalie Augspurg besucht hat. Das ist die ältere Schwester von Anita.
Anna Scholz
Anita Augspurg wird später bekannt werden als Frauenrechtsaktivistin, die auch dazu beigetragen hat, dass Frauen in der Weimarer Republik endlich wählen durften. Damals aber, als sie Sophia Goudstikker kennenlernte, war sie gerade erst Ende 20 und wollte eigentlich Schauspielerin werden.
Pia Singer
Und die zwei haben dann auch sehr schnell eine sehr innige Beziehung eingegangen und haben sich dazu entschieden, ein Fotostudio zu eröffnen, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können.
Anna Scholz
1887 zog das Paar dann nach München und eröffnete das Atelier Elvira.
Pia Singer
Die beiden haben durch ihr Auftreten und durch ihr unkonventionelles Leben sehr schnell in München großes Aufsehen erregt. Also sie sind ja sehr selbstständig gewesen, sie waren unabhängig. Sie haben beide Kurzhaarfrisuren getragen und reformistische Kleidung. Sie haben Sport getrieben, sie ritten im Herrensitz durch den Englischen Garten, sie fuhren Fahrrad, sie gingen wandern, und es hat alles damals ausgereicht, um Aufsehen zu erregen.
Anna Scholz
Aufsehen erregte auch ihr Atelier selbst. Einige Jahre nach der Eröffnung beschlossen die beiden, ihrem Fotostudio einen neuen Anstrich zu verpassen.
Pia Singer
Sie haben einen noch relativ unbekannten Architekten und Künstler August Endell dazu gewinnen können, die Innenräume neu zu gestalten, aber auch die Fassade. Und die Fassade ist dann zum prägnantesten Markenzeichen des Münchner Jugendstils geworden.
Anna Scholz
Ihr müsst euch eine smaragdgrüne Hauswand vorstellen, die von einem mehrere Meter hohen und breiten Ornament geziert wird. Man sieht darauf… tja, schwer zu sagen. Etwas Wellenartiges, Schwungvolles, das etwas von einem Meerestier hat.
Pia Singer
Und dieses Ornament, diese Fassade hat großen Aufschrei provoziert. Manche fanden es absolut empörend, was da zu sehen ist, einfach weil man diese Formen nicht kannte und weil sie irgendwie nichts ausgesagt haben. Manche haben den Drachen darin gesehen und andere aber halt irgendwie nur noch wildes Zeug.
Anna Scholz
Das Ornament wurde 1937 von den Nazis zerstört. Der Bauplan und noch einige Schwarz-Weiß-Fotografien waren aber noch erhalten und so konnte die Fassade nachgebaut werden. Sie ist aktuell in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in München zu sehen, einer gemeinsamen Ausstellung des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München. Wir verlinken euch auch ein Bild der Fassade in den Shownotes.
Obwohl Anita Augspurg, Sophia Goudstikker und ihr Atelier unkonventionell und aufsehenerregend waren, war ihre Fotografie klassisch und traditionell. Und das war offenbar eine gute Kombination, um Kundschaft anzuziehen.
Pia Singer
Es war schnell auch ausgesprochen schick, sich dort fotografieren zu lassen. Die Münchner Prominenz kam sehr bald. Berühmte Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft, Adel und Beamtentum haben sich dort fotografieren lassen.
Anna Scholz
Auch aus dem Ausland kamen Könige, Prinzen, Kronprinzessinnen, Gräfinnen und Kurfürsten, um sich von Augspurg und Goudstikker fotografieren zu lassen.
Die beiden sich liebenden Frauen und ihr Fotoatelier waren irgendwie so kultig edgy, dass die gehobene Klasse sich gerne mit ihnen umgab. Sie wurden zu Festen und Empfängen geladen und ein Fototermin im Atelier Elvira war hip. Sie waren aber nicht zu edgy – etwa indem sie das offene Ausleben ihrer Sexualität auch für andere eingefordert hätten. Man kann vielleicht sagen: Sie bedrohten das heteronormative Leben, das die bestehende Norm war, nicht. Und so fanden die beiden als Ausnahmeerscheinung ihren Platz in der Münchner Gesellschaft.
Pia Singer
Womit die beiden wesentlich mehr angeeckt sind, war ihr Engagement in der Frauenrechtsbewegung. Also als sie nach München gekommen sind, haben sie sich relativ schnell auch für die Frauenbewegung engagiert und waren auch Mitglied im Weimarer Verein Reform, der die Öffnung aller Bildungseinrichtungen für Frauen zum Ziel hatte. Und Anita Augspurg hat in diesem Rahmen auch Vorträge gehalten.
Anna Scholz
Anita Augspurg zählte zum radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie setzte sich allerdings für die Anliegen von Frauen ein, nicht die von Queers. Sie lebte zwar offen als lesbische Frau, forderte aber nicht gezielt mehr Rechte für queere Personen ein.
Pia Singer
Sie hat sich ja sehr stark auch fürs Frauenwahlrecht eingesetzt und war da Vorreiterin und konnte auch mit der Gründung der Weimarer Republik 1918/1919, wo Frauenwahlrecht dann in der Verfassung festgeschrieben war, ja durchaus auch einen Erfolg erzielen. Und hat dann aber natürlich nicht aufgehört. Sie hat sich weiter engagiert für Frauenrechtsfragen, für die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft und hat sich damals aber auch einen Namen als Gegnerin der Nationalsozialisten gemacht.
Anna Scholz
Dass das für Anita Augspurg nicht gut ausging, könnt ihr euch denken. Als die NSDAP 1933 an die Macht kommt, war sie mit ihrer damaligen Partnerin gerade im Ausland – und kam dann auch nicht mehr nach Deutschland zurück.
Was können wir aus diesem Blick in die Vergangenheit also lernen? Zum einen sieht man, dass Gesetze Gesellschaft formen und verändern können. Mit der Einführung des Paragrafen 175 wurden homosexuelle Männer wieder mehr verfolgt und queeres Leben generell mehr geächtet.
Was man aber am Beispiel von Anita Augspurg und Sophia Goudstikker auch sehen kann, ist: Queeres Leben durfte dann stattfinden, wenn es in einem sehr engen Rahmen gelebt wurde – und die Ausnahme blieb. Sie waren Exotinnen, Freaks, Entertainment, und als solche durften sie Teil der Gesellschaft sein. Was aber wäre gewesen, wenn die beiden für sich als queeres Paar Rechte eingefordert hätten? So wie sie Rechte für sich als Frauen eingefordert haben?
Übrigens: Wenn ihr euch für den Stand der Frauenrechte um 1900 interessiert, hört doch mal in Folge zwei rein.
Anna Scholz
Springen wir einmal zurück ins Jahr 2025. Inzwischen können wir auf mehr als 50 Jahre queeren Aktivismus in Deutschland blicken…
Dr. Esto Mader, wissenschaftliche Mitarbeiter*in am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt Universität Berlin
…vor allen Dingen auch im Zuge der Forderung der Abschaffung des Paragraf 175.
Anna Scholz
Das ist Esto Mader, Postdoc und wissenschaftliche Mitarbeiter*in am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt Universität Berlin. Mit Esto Mader habe ich versucht zu verstehen, warum offen queeres Leben gerade wieder so bedroht wird. Der Paragraf 175 wurde in Deutschland erst 1994 endgültig gestrichen. Die öffentliche und laute Auflehnung fand allerdings schon in den Sechzigerjahren statt.
Esto Mader
Und ganz klare Forderungen, vor allen Dingen eben auch nach Teilhabe und Sicherheit. Also einerseits eine Legalisierung davon und ja, eine Teilhabe und Sichtbarkeit innerhalb der Gesellschaft.
Anna Scholz
Esto Mader sagt, es gibt drei große umkämpfte Felder: Teilhabe, Sichtbarkeit und Sicherheit. Teilhabe meint, dass Queers eben Teil der Gesellschaft sind, sich in ihr bewegen und mitmachen können, dass ihnen das Gleiche zusteht wie allen anderen. Sichtbarkeit kann bedeuten, dass zwei Männer händchenhaltend durch die Stadt laufen können. So wie eben alle anderen auch. Sichtbarkeit findet zum Beispiel auch beim CSD statt. Und Sicherheit bedeutet, dass sie all das tun können, ohne um ihr Leben oder ihre Unversehrtheit fürchten zu müssen.
Vor allem, was politische Teilhabe angeht, können queere Menschen in den letzten Jahrzehnten einige Erfolge verbuchen, angefangen mit der Entkriminalisierung von Homosexualität. Dann kamen einige gesetzliche Änderungen: das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das vor Diskriminierung schützt, die Ehe für alle und die dritte Option: Also die Möglichkeit, neben männlich oder weiblich als Geschlechtseintrag im Perso "ohne" oder "divers" anzugeben. Die letzte Neuerung ist das Selbstbestimmungsgesetz, über das haben wir am Anfang der Folge schon gesprochen. Und all das hat Folgen.
Esto Mader
Bewerten würde ich das als eine Verschiebung von Norm, von der Norm oder Normalisierungsprozessen. Also was wir feststellen können, ist, dass wir jetzt in… ja so nach dem Nationalsozialismus eben noch eine sehr, ich sage jetzt mal traditionelle Vorstellung haben von Geschlecht und Sexualität. Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität als Norm und dass diese Norm oder alles, was quasi in die Norm mit aufgenommen wird, das zunehmend sich verändert.
Anna Scholz
Das ist ein entscheidender Unterschied zu queerem Leben von früher. Anita Augspurg und Sophia Goudstikker waren genau nicht die Norm und auch deswegen so interessant für die Münchner Schickeria. Nicht die Norm zu sein bedeutet aber eben auch: Weniger Teilhabe, weniger Sichtbarkeit und weniger Sicherheit.
Esto Mader
Die Norm ist ja sehr mächtig und die ist ja, also wer die Norm ist, das ist ja verbunden auch mit Macht innerhalb der Gesellschaft, also mit einer gesellschaftlichen Positionierung. Und ich denke, das, was im öffentlichen Diskurs passiert, ist eine gefühlte Bedrohung, dieses Alleinstellungsmerkmal zu verlieren. Es ist ein bisschen so diese Vorstellung, als würde dann anderen was weggenommen werden. Aber tatsächlich ist es ja nur eine Ausweitung der gleichen Rechte.
Anna Scholz
Das klingt jetzt alles so ein bisschen abstrakt. Was heißt das denn konkret?
Esto Mader
Also was ich meine ist also, wenn es staatliche Gesetze gibt zur Förderung bestimmter Lebensweisen, also wie zum Beispiel das Ehegattensplitting, also das zementiert ja rechtlich einen Vorteil für all diejenigen, die sich in der Zweigeschlechter-Ordnung verorten, heterosexuell sind und das Bündnis der Ehe eingehen und dazu ein stereotypes oder ein traditionelles Geschlechterbild leben. Also der Mann arbeitet viel, die Frau weniger und dadurch bekommen sie steuerliche Begünstigung. Das ist jetzt so ein Beispiel dafür, wie sich das dann festschreibt. Also das ist eine Bevorzugung von all denjenigen, die in diese Norm fallen. Das heißt, alle, die nicht heiraten wollen, die nicht hetero sind, die nur andere Geschlechterrollen leben etc. die haben gar nicht die Möglichkeit, von dieser Bevorzugung zu profitieren.
Anna Scholz
Das ist zum Beispiel ein Grund, warum es von Vorteil und wichtig ist, dass auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten können. Weil sie dann eben auch die gleichen Vorteile haben, wie Heteropaare. Aber nur weil ein Recht auf mehr Personengruppen ausgeweitet wird, wird dadurch ja niemand anderem etwas weggenommen. Trotzdem fühlt sich das für viele Menschen wohl so an. Als würden sie selbst dadurch etwas verlieren, auch wenn das faktisch nicht der Fall ist. Dieses Gefühl verstärkt sich in Zeiten von Krisen. Und die Welt befindet sich ja gerade in einem Dauer-Krisenmodus. Klimakrise, Wirtschaftskrise, Demokratiekrise – you name it. Und in Zeiten der Krise, sagt Esto Mader, gelten etwas andere Regeln.
Esto Mader
Na ja, was passiert in Krisensituationen ist das einfache Denkmuster, also die unterscheiden zwischen gut und böse oder richtig und falsch, also dualistisches Denken, dass das an Zuspruch gewinnt. Und das ist eine Denkweise, die zwischen Norm und nicht Norm unterscheidet oder auch zwischen gesund und krank und dann die Norm nimmt als das, was das Richtige ist.
Anna Scholz
Dazu kommt natürlich auch: In Zeiten der Krisen werden Ressourcen knapp. Die Politik streitet in letzter Zeit über wenig so emotional wie über den Haushalt – außer vielleicht über Migration. Die großen Fragen lauten: Was wird gefördert, wer bekommt Geld und wofür? Wie füllen wir die leeren Krankenkassen? Die Pflegekassen? Die Sozialkassen? Und von diesen sowieso schon leeren Kassen sollen jetzt noch mehr Menschen profitieren? Die Rechnung geht nicht auf, denken sich da wohl viele – und gehen in die Defensive.
Esto Mader
Ich denke schon auch, dass auf Angst oder auf Zerfall von gesellschaftlichem Zusammenhang oft reagiert wird, damit, sich quasi "Das Andere" als Feindbild zu konstruieren, um sich sicher zu sehen. Aber das steht natürlich auch ganz eng mit Diskursen zu Migration oder auch zu Klasse. Nur das lässt sich auch gar nicht unbedingt auseinanderhalten.
Anna Scholz
Gerade auch Migrant*innen werden in diesen Zeiten zu einem krassen Feindbild konstruiert und für sämtliche Probleme unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht. Und auch wenn das Thema Migration in dieser Folge nicht das Thema ist, hat diese Konstruktion von Feindbildern letztlich immer denselben Effekt:
Esto Mader
Also es ist ja letzten Endes eine Komplexitätsreduktion, eine Vereinfachung, also eine Suche nach Antworten. Also es macht die Welt leichter verständlich in der Hinsicht. Aber ja, sieht dann halt einfach die Komplexität nicht oder das Spektrum nicht.
Anna Scholz
Wenn also die Rechte von Queers, ihre Teilhabe, Sichtbarkeit und – wie die Zahlen des BKA zeigen vor allem auch – ihre Sicherheit so massiv infrage gestellt werden, kann das verheerende Folgen haben. Es kann sogar Rückschritte bedeuten.
Esto Mader
Aus soziologischer Perspektive kann ich die Befürchtung formulieren einer Abwärtsspirale, wenn gesellschaftliche Prozesse, politische Prozesse, genauso wie auch rechtliche oder wissenschaftliche Prozesse, wenn das zusammenkommt, also wenn es Zusammenspiele gibt von. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden nicht mehr als legitim befunden oder Wissenschaft wird diskreditiert gleichzeitig mit politischen Kürzungen, also wenn gerade im kulturellen und sozialen Bereich das Geld rausgezogen wird. Sprich, dass es dann auch zu Kämpfen um knappe Ressourcen kommt in diesen Feldern, also dadurch die soziale Ungleichheit sich verstärkt gemeinsam dann auch noch mit politischen Diskursen, also wie wir es beobachten, also ein Erstarken der Rechten, dann kann das schon zu einer drastischen Abwärtsspirale führen, also hinsichtlich Verstärkung von sozialer Ungleichheit oder auch eine Einschränkung von Rechten für vulnerable oder marginalisierte Gruppen.
Anna Scholz
Es passiert ja sogar schon, dass Rechte und Teilhabe wieder entzogen werden. Einiges spricht dafür, dass die aktuelle Debatte sich vor allem an die Geschlechterfront verschoben hat. Über Donald Trumps Äußerungen zu den zwei Geschlechtern in seiner Antrittsrede haben wir zu Beginn schon gesprochen. In den USA werden außerdem immer mehr Bücher mit "book bans" verhängt, dürfen also nicht mehr in Bibliotheken stehen und in Schulklassen besprochen werden. Die Schriftsteller*innen-Vereinigung PEN USA hat erklärt, dass gerade auch über viele Büchern zu LGBTQI+-Themen "book bans" verhängt wurden. In Deutschland reiben sich konservative und rechtsextreme Parteien an dem Genderstern auf, weil es eben infrage stellt, dass es nur zwei Geschlechter gibt. In bayerischen Behörden ist sogar schon seit vergangenem Jahr "die Gendersprache mit Sonderzeichen zur Geschlechterumschreibung unzulässig".
Es könnte also tatsächlich dazu kommen, dass Menschenrechte, die in den letzten Jahrzehnten so hart erkämpft wurden, wieder aberkannt werden. Was kann man tun?
Esto Mader
Das ist also ein vielschichtiges Problem. Und vielschichtige Probleme brauchen auch vielschichtige Lösungen. Ich glaube nicht, dass es da eine Lösung für gibt.
Anna Scholz
Was wir aber auf jeden Fall lernen müssen, sagt Esto Mader, ist Differenzen auszuhalten. Andere Meinungen zu respektieren. In Aushandlungsprozesse zu gehen.
Esto Mader
Dann müsste es darum gehen, eher hin zu solidarischen Vorstellungen oder Bündnissen, anstatt sich auf Kämpfe um knappe Ressourcen einzulassen. Also das würde erfordern, vielleicht so was wie Wohlwollen und ein Aushalten von Differenzen.
Anna Scholz
Fassen wir nochmal zusammen. Zuerst das Positive: In den fast 150 Jahren seit der Einführung des Paragrafen 175, der Sex zwischen Männern unter Strafe gestellt hat, hat sich einiges getan. Zum Beispiel, dass der Paragraf wieder abgeschafft wurde. Aber auch so viel mehr. Männer wurden damals noch für ihre Liebe zueinander bestraft und Frauen wie Anita Augspurg und Sophia Goudstikker durften nur als Ausnahmeerscheinung vorkommen. Sie hatten zwar Sichtbarkeit, Teilhabe und Sicherheit – aber nur solange sie die Norm nicht wirklich bedrohten.
Heute können wir sehen, dass es in den letzten Jahrzehnten eine klare Normverschiebung gab, zu der vielfältiges Lieben und Leben außerhalb der Heteronormativität dazugehört.
ABER: Normen können sich auch wieder zurückentwickeln, Menschen können juristische Rechte wieder entzogen werden, und damit auch Teilhabe und Sicherheit. Doch wir können uns dem entgegenstellen: Indem wir lernen, Differenzen auszuhalten und auszuhandeln. Genau das wünscht sich auch Lisa, die am Anfang dieser Folge ihren empowernden "I kissed a girl" Moment mit uns geteilt hat.
Lisa
Den Mut haben, aufeinander zuzugehen, auch wenn Unterschiede da sind, also die Ablehnung und der Hass, das, was gerade passiert, das basiert ja auch auf Angst vor dem Anderssein und auf Angst vor Unterschieden.
Anna Scholz
Das heißt natürlich nicht, dass wir für Homo- oder Transphobie oder sonstige Formen von Ausgrenzung Platz in unserer Gesellschaft machen sollten. Es heißt nur: Lasst uns ins Gespräch kommen, uns kennenlernen. Lasst uns deutlich machen: Normverschiebung heißt nämlich nicht, dass Menschen etwas weggenommen wird, sondern im Gegenteil: Dass wir als Gesellschaft offener und inklusiver werden, also vielmehr dazugewinnen.
Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie reimt sich. Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch zukünftig Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns damit, was die ersten Plakate mit Social Media zu tun haben und wie wir heute kommunizieren. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Ein Bild von der Fassade des Atelier Elvira findet ihr digital in den Shownotes und analog noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich". Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München. Schaut doch mal vorbei!
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Janina Rook und das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums. Autorin dieser Folge ist Carolina Torres.
Und zum Schluss wie immer noch was Spaßiges für euch. Pia Singer vom Münchner Stadtmuseum hat mir noch erzählt, wie sie beim Sammeln von Objekten für eine Ausstellung zu queerem Nachtleben auf ein besonderes Stück queerer Geschichte gestoßen ist. Es stammt aus den 1990ern:
Pia Singer
Und in dem Zuge ist aber auch ein lesbisches Identitäts-Spiel in die Sammlung gekommen, das von lesbischen Frauen selbst entwickelt wurde und was man in der Nymphe spielen konnte, was auch so ein Frauenort war in der Nymphenburger Straße. Und dieses Spiel hat sich so auf eine sehr amüsante Weise mit verschiedenen lesbischen Identitäten auseinandergesetzt. Also hat das auch so ein bisschen aufs Korn genommen, hat das so ein bisschen ironisiert dargestellt, weil innerhalb der lesbischen Szene halt auch nicht nur die Lesbe existierte, sondern einfach sehr verschiedene. Also die Lesben waren unterschiedlich politisch aktiv, manche waren es überhaupt nicht, manche waren auch sehr zurückgezogen, weil halt so ihre politische, ihre berufliche Karriere ihnen wichtiger waren und deswegen waren sie der Öffentlichkeit nicht geoutet.
Anna Scholz
Kleiner Reminder, dass es auch innerhalb von Gruppen Vielfalt gibt.
Greller, lauter, bissiger? Von Plakaten zum Puppy-Content
Folge 5
Wehe, der Algorithmus streikt: Sobald unsere eigene, sorgfältig aufgebaute Social-Media-Bubble durch andere Sichtweisen zu platzen droht, platzt auch schnell die Hutschnur. Haben Menschen schon immer so emotional auf Dinge reagiert, die plötzlich in ihrem Sichtfeld auftauchen?
Mit Henning Rader, Leiter der Sammlung Reklamekunst des Münchner Stadtmuseums, erkunden wir den Ursprung von Bildern als Kommunikationsmedium in der Werbung. Noch lange bevor es Social Media und Memes gab, machte das Plakat Bilder zum zentralen Kommunikationsmittel – und das schon vor 1900. Mit einer neuen, reduzierten Bildsprache und wenig Text entwickelten sich Plakate sehr schnell zu einem neuen Massenmedium. Ihre emotionale, oft "laute" Bildsprache war effektiv, aber auch verknappt – und hat damit starke Reaktionen provoziert. Professorin Anna Kümpel erklärt, wie das Prinzip auch in der heutigen digitalen Welt noch weiterwirkt und warum gerade online die Emotionen so schnell hochkochen.
Shownotes
Inhalt
[00:00] Einleitung
[06:19] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Henning Rader, Leitung der Sammlung Reklamekunst des Münchner Stadtmuseums
[19:49] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Kommunikationswissenschaftlerin Professor Anna Kümpel
[26:40] Zusammenfassung und Ausblick
[30:01] Goodie
Abbildungen / Verweise
Thomas Theodor Heine, "SiMPLiCiSSiMUS" (Originaltitel), 1897, Münchner Stadtmuseum
Ludwig Hohlwein, „Hermann Scherrer. / Breechesmaker Sporting=Tailor / München / Neuhauserstr. 32“ (Originaltitel), 1907, Münchner Stadtmuseum
Waschbären-Meme
Bruno Paul, „Kunst / im / Handwerk / München / Ausstellung / im / Alten National Museum“ (Originaltitel), 1901, Farblithografie, 88,9 cm x 59,7 cm, Münchner Stadtmuseum
Quellen
https://www.instagram.com/p/C8cYu7pJhz5/
https://youtu.be/mWxvTA5mz9g?feature=shared&t=20
https://leibniz-hbi.de/hbi-publications/reuters-institute-digital-news-report-2024-ergebnisse-fuer-deutschland/
https://www.statista.com/statistics/1372644/tiktok-videos-posted-by-publication-day/#statisticContainer
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/458817/umfrage/gewinn-von-facebook-weltweit/#:~:text=Der%20Gewinn%20von%20Meta%20(ehemals,%C3%BCber%2062%20Milliarden%20US%2DDollar
Weiterführende Ressourcen
- Mehr Infos zur Plakatkunst von Ludwig Hohlwein und Abbildungen seiner Werke, findet ihr in der Sammlung Online des Münchner Stadtmuseums.
- Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, erhältlich im Online-Shop
- Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum(at)muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Janina Rook
Redaktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkription
Anna Scholz, Host
Henning Rader, Leitung der Sammlung Reklamekunst des Münchner Stadtmuseums
Prof. Dr. Anna Sophie Kümpel, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München
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Anna Scholz
Ich lebe in einer Blase. In einer schönen Blase, in der ich viel lache und "Aw" sage. Ich rede natürlich von meiner persönlichen Social-Media-Blase. Ich habe lange und hart an meinem Algorithmus auf Instagram gearbeitet, bis es zu einem kleinen gemütlichen Nest für meine Sinne wurde: Hundevideos. Tennisvideos. Interviewsnippets von meinem Lieblingsschauspieler Paul Mescal. Und wenn Paul Mescal auch noch mit Welpen spielt, dann ist es um mich geschehen. Wie hier beim "The Puppy Interview" von "BuzzFeed Celeb", 2024:
Paul Mescal
Hello! You like me, don’t you? You’re the best. This is fantastic!
Anna Scholz
Meine Social-Media-Blase kann aber leider auch schnell platzen. Und ich auch.
steakandbuttergirl
I’ve quit wearing sunscreen and no longer get sunburned after cutting out all seed oils from my diet. I’ve replaced all my seed oils with animal fats.
Anna Scholz
Wenn selbst ernannte Wellness- und Ernährungsinfluencer*innen – wie die Frau in diesem Reel – nicht nur unwissenschaftlichen, sondern auch sehr gefährlichen Quatsch verbreiten, treibt mich das in den Wahnsinn. Und je länger ich mir solche Videos angucke, desto wütender werde ich. Denn so sehr ich mich über Posts freuen kann, genauso kann ich mich an ihnen aufreiben. Wenn ich mir mein Umfeld angucke, dann geht es den meisten ähnlich. Sie mögen vielleicht andere Dinge, haten andere Dinge. Aber sie – wie ich – sind selten neutral. Digitale Kommunikation ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle, polarisiert häufig. Und wenn ich mir Nachrichten, Talkshows oder Bundestagsdebatten angucke oder auf Familienfeiern gehe, frage ich mich gerade des Öfteren: Ist unsere Kommunikation generell emotionaler geworden? Also, wenn wir in größeren Gruppen und öffentlich miteinander reden und diskutieren? Schreien wir uns gerade besonders schnell und häufig an? Wenn ja, liegt das am Internet? Oder sind das nur gefühlte Wahrheiten?
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren. Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Heute scheinen wir in einer Zeit zu leben, in der unser neuestes Medium – das Internet – dazu führt, dass wir besonders intensiv und emotional miteinander kommunizieren. Oder war das vielleicht auch schon früher so?
Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen. Hi, ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. In der ersten Staffel von "Zeitschleifen" soll es um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen – aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Egal, welche Blase ihr euch im Internet aufgebaut habt, die Posts, die ihr seht, funktionieren eigentlich alle gleich. Unabhängig davon, ob sie journalistisch, werblich oder unterhaltsam sind. Ob Video oder Foto. Das Schema ist meistens: ein starkes Bild, kurzer, knackiger Text und schön emotional. Stellt euch zum Beispiel folgendes Bild vor: ein zerbrochenes Flugzeug-Wrack auf dem Boden. Darüber der Titel: "Die Nacht, als Leichen vom Himmel fielen." Nein, das ist nicht Werbung für den neuen Action-Blockbuster mit Tom Cruise. Das ist das Thumbnail eines der erfolgreichsten Videos auf dem Youtube-Kanal von "ZDFheute". Die Nachrichtensendung berichtet über einen Flugzeugabsturz. Ich finde den Titel ziemlich geschmacklos. Aber es zieht: Es wurde 3,6 Millionen Mal geklickt. Das ist viel für eine Nachrichtensendung im Netz.
Es gibt natürlich auch sehr viel weniger drastische Inhalte. Aber auch die lieben Extreme und Superlative: "Dieses Video wird dein Liebesleben für immer verändern", "Fünf Anzeichen, dass du ADHS hast", "Die besten Schminktipps, die dich zehn Jahre jünger aussehen lassen."
Prof. Dr. Anna Sophie Kümpel, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München
Also wir wissen ja aus der Forschung, dass sich vor allem solche Inhalte stark und auch schnell verbreiten, die emotional aufgeladen sind, die auch mit Blick auf die transportierten Meinungen zugespitzt oder vielleicht sogar extrem sind oder auch die Gruppenzugehörigkeit von Personen stark ansprechen.
Anna Scholz
Das ist Kommunikationswissenschaftlerin Professor Anna Kümpel, die sich auf Soziale Medien spezialisiert hat. Und sie bestätigt meine gefühlte Wahrheit: Wir sind emotionaler im digitalen Raum. Als Sender*in und Empfänger*in von Posts. Was mich unglaublich daran nervt: die Zuspitzungen. Sie fühlen sich für mich schnell marktschreierisch an. Also, als würden mich die Posts direkt anschreien. Gleichzeitig bin ich aber auch für sowas auch empfänglich, und ich glaube, das ist menschlich.
Aber das heißt nicht, dass alle Social-Media-Inhalte immer nur nerven. Sie helfen auch, zu informieren. Laut des Reuters Institute Digital News Report von 2024 ist für 42% der Erwachsenen das Internet ihre Hauptquelle für Nachrichten. Also für fast die Hälfte. 15% nennen die Sozialen Medien sogar als Hauptquelle. Bei den 18- bis 24-Jährigen sind es sogar 35%. Trend steigend.
Und Soziale Medien unterhalten wahnsinnig gut. Zum Beispiel mit Memes. Memes, das sind lustige Fotos und Kurz-Videos. Eines meiner Lieblingsmemes ist das, wo zwei Waschbären vor einer Tür auf- und abspringen, um an die Türklinke zu kommen. Und da drüber steht: "Meine zwei letzten Gehirnzellen, die versuchen, ihr Bestes zu geben." Es ist einfach zu cute. Wir verlinken es in den Shownotes.
Ob ich die Inhalte aber nun mag oder nicht. Eins können sie immer sehr gut: Sie catchen Aufmerksamkeit. Auch wenn wir das nicht immer wollen. Wie hat das Internet das geschafft?
Henning Rader, Leitung der Sammlung Reklamekunst des Münchner Stadtmuseums
Eine große Parallele zur Gegenwart ist, dass um 1900 bereits eine Entwicklung begonnen hat, die bis auf den heutigen Tag anhält und sich fortsetzt, dass nämlich Bilder zu dem zentralen Kommunikationsmittel werden. Und das sind sie heute mehr denn je, vor allem im Hinblick auf bewegte Bilder, aber Bilder auch allgemein. Das ist das, worüber Aufmerksamkeit erzeugt werden kann, schnell und viele Menschen erreicht werden können.
Anna Scholz
Das ist Henning Rader.
Henning Rader
Ich leite die Sammlung Reklamekunst am Münchner Stadtmuseum.
Anna Scholz
Und – jetzt spitze ich mal zu – er gibt Plakaten an allem die Schuld. Und nimmt uns darum mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Erster Stopp: 1897.
Stell dir vor: Mitten auf dem Bürgersteig. Ein Mann mit tiefsitzendem Seitenscheitel, einem dicken Schnurrbart, wachen Augen, umrahmt von tiefen Augenringen. Er pafft eine Pfeife und trägt einen zweiteiligen Anzug mit Fliege. Und er wartet auf etwas. Der 30-jährige sieht aus wie viele Männer des Bildungsbürgertums in München zu der Zeit. Aber Thomas Theodor Heine ist nicht irgendein Mann. Er macht Menschen gerne wütend. Mit Bildern. 1884 flog er kurz vorm Abi vom Gymnasium, weil der Direktor seine Karikaturen, naja, sagen wir mal, nicht so witzig fand. Und an diesem schönen Tag, an dem er da Pfeife paffend auf dem Bürgersteig herumsteht, im Jahr 1897, wird er ganz München wütend machen. Das weiß der Maler und Karikaturist. Er blickt die Ludwigstraße entlang, zwischen Staatsbibliothek und Siegestor. Schöne, klassische Gebäude stehen hier. Die Ludwig-Maximilians-Universität. Das Priesterseminar Georgianum. Große ehrwürdige Institutionen. Historisch. Voller Tradition. Jetzt beobachtet Heine, wie Plakate auf eine der Litfaßsäulen gekleistert werden, die auf den Bürgersteigen stehen. Ankündigungen fürs Theater, Bekanntgebungen vom Kaiser, Werbung. Viel Text neben sehr detailreichen Zeichnungen. Ah, und da kommt endlich sein Plakat. Fetter, schwarzer Hintergrund, eine knallrote Dogge, mit gefletschten Zähnen, die sich von einer Eisenkette losgerissen hat. Und darüber, in weißen Lettern: "Simplicissimus".
Henning Rader
Es leuchtet extrem. Es sind starke Farbkontraste. Es kommt im Endeffekt mit nur drei Farben aus: schwarz, rot und weiß, die einen anleuchten. Die Bulldogge springt einen förmlich an. Also ich glaube, das muss für die Menschen damals unglaublich provokativ gewesen sein.
Anna Scholz
Das Plakat wirbt für die berühmte gesellschaftskritische Satire-Zeitschrift "Simplicissimus", die Thomas Theodor Heine 1896 mitbegründet hat. Ihr findet ein Bild des Plakats in den Shownotes verlinkt und in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – einer gemeinsamen Ausstellung des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München. Provokativ ist das Plakat für die monarchische Gesellschaft nicht nur des Inhalts wegen – eine Dogge, die sich vom Herrchen befreit hat und sich über alle Konventionen hinwegsetzt. Sondern auch die Bildsprache provoziert. Heine benutzt zum ersten Mal die Ausdrucksmittel der Karikatur für die Werbung.
Henning Rader
Also in der Karikatur sind Darstellungsmittel wie eben die radikale Vereinfachung, auch so die starke Vergröberung und Überzeichnung von charakteristischen Details, schon sehr früh angelegt. Und diese Gestaltungsmittel eignen sich eben auch bestens für die Werbung, viel besser noch als die damals üblichen Gestaltungsmittel, wo es darum ging, den Gegenstand, der beworben wird, besonders realitätsnah und detailgenau darzustellen.
Es ist in einer völlig neuen Sprache, Bildsprache verfasst. Es ist witzig, es ist vor allem unglaublich einprägsam.
Anna Scholz
Weil es die Aufmerksamkeit der Passant*innen mit so simplen Mitteln catchen konnte, gilt Heines Plakat als das erste moderne Plakat Deutschlands. Und auch das hat Passant*innen und die herrschende Klasse schon wütend gemacht. Allgemein gab es auf Plakate gerne schon mal wütende Reaktionen. Sowas wie:
Henning Rader
Was für ein schreckliches Plakat. Ja, Wir sollten es abreißen.
Anna Scholz
Und schwupps! Wurde so ein Plakat auch mal gerne abgerissen. Die öffentliche Wut hat das Plakat nicht weniger erfolgreich gemacht. Man könnte vielleicht sogar sagen, sie hat zu seinem massiven Erfolg beigetragen. Die Rote Dogge wird zum Markenzeichen des Simplicissimus. Auch die neue Bildsprache findet sich schnell auf sehr vielen anderen Plakaten wieder. Heute würde man sagen: Sie geht viral. Das Stadtbild wird bunt wie nie zuvor.
Dass Thomas Theodor Heine als Künstler selbst die Werbung gestaltete, klingt für heutige Ohren vielleicht ungewöhnlich. Aber Ende des 19. Jahrhunderts lebten über 3.000 Maler in München, die alle irgendwie von ihrer Kunst leben wollten. Wenn sie ihre Bilder verkaufen wollten, mussten sie auf ihre Ausstellungen aufmerksam machen. Also malten sie ihre Plakate gleich selbst, um mit besonders schöner Gestaltung das kaufkräftige Publikum anzuziehen und die Konkurrenz zu übertreffen. Und wie das dann immer so ist: Wenn ein Trend gut läuft, kommt die Wirtschaft um die Ecke. Auch sie entdeckt die neue Plakatkunst für sich. Das heißt, sie bewerben ihre Produkte jetzt genauso aufmerksamkeitswirksam. Die moderne Werbung wird geboren.
Henning Rader
Es soll eine bestimmte Botschaft vermittelt werden. Über Emotionen sollen die Menschen erreicht werden. Es geht um eine Message, die eben mit einer bestimmten Marke, mit einem Produkt, sozusagen ein Lebensgefühl, einen Lifestyle verbindet. Also wenn ich diese Schuhe trage oder das Getränk trinke, dann, ja, bin ich etwas Besonderes, dann gehöre ich dazu, dann bin ich attraktiv, dann bin ich erfolgreich. Und genauso funktioniert Werbung heute, genauso wie um 1900. Da hat sich nicht viel geändert.
Anna Scholz
Das bringt uns zu unserem zweiten Stopp auf unserer Zeitreise: das Jahr 1907. Zu einem Mann, der weiß, mit seinen Plakaten die Gemüter zu verführen. Ludwig Hohlwein.
Ludwig Fritz Karl Emil Heinrich Hohlwein hatte nicht nur viele Namen, er hatte auch viele Jobs. Er war Architekt, Maler, Grafiker, Plakatkünstler und Innenarchitekt. Und er hatte noch mehr Auftraggeber als Jobtitel: Audi, Daimler-Benz, Bahlsen, Kaffee Hag, Görtz Schuhe, Kulmbacher, Lufthansa und, und, und. Die großen Wirtschaftsunternehmen Deutschlands und der westlichen Welt haben Hohlweins Plakate geliebt.
Henning Rader
Er wurde international als Plakatkönig gefeiert von der Presse, hatte international auch einen exzellenten Ruf Und hat insofern auch ganz entscheidend zum Ruf Münchens als Plakatstadt beigetragen. München als ein ganz wichtiges Zentrum der modernen Plakatbewegung in dieser Zeit.
Anna Scholz
1907 ist ein wichtiges Jahr für Hohlwein. Da ist er 33 Jahre alt. Und er wird ein Plakat zeichnen, das seine Karriere für immer verändern wird. Es bewirbt das Münchner Sportbekleidungsgeschäft Hermann Scherrer. Ihr könnt es euch so vorstellen: Grauer Hintergrund. Ein Mann trägt in der rechten Hand eine Reitgerte, in der linken einen Sattel. Er trägt Reiterstiefel, eine knallrote Weste und eine Reithose. Die schwarz-weiß karierte Hose catcht einen sofort.
Henning Rader
Also ganz flächig gestaltet, ohne Faltenwurf, ohne etwas, was ablenken kann. Und das ist ganz typisch für ihn, dass er eben solche Schmuckflächen, Ornamentflächen bei vielen seiner Plakate verwendet, die die Wirkungskraft des Plakats auch noch mal enorm steigern.
Anna Scholz
Hohlweins Plakat sieht sehr elegant aus. Spannend ist auch der knappe Text, der oben links im Bild steht: "Hermann Scherrer – Sporting Tailor". Also das Münchner Sportgeschäft wirbt in München in Englischer Sprache. Die Affinität Englisch zu benutzen, wenn man eine gewisse hippe Gruppe erreichen möchte, gab’s also auch von Anfang an. Nur war vor 100 Jahren damit die Oberschicht gemeint.
Henning Rader
Und das ist im Endeffekt genau die Zielgruppe, an die sich dieses Plakat richtet. Es geht an die, es geht um die oberen Gesellschaftsschichten, die nicht arbeiten müssen, die ganz dem Konsum frönen können, die den Freizeit Vergnügungen wie hier dem Reiten frönen können. Und das spiegelt sich auch in der englischsprachigen Kampagne dieses Sporthauses Hermann Scherer wider.
Anna Scholz
By the way, auch auf diesem Plakat gibt es eine Dogge. Also: Egal welche Klasse erreicht werden soll: Hunde-Content hat schon immer gezogen.
Henning Rader
Die Bulldogge von Hohlwein ist eher so der Typus Schoßhund. Also Hohlwein hat die Bulldogge quasi als vornehmes Accessoire der der britischen Upper Class hier in dieses Plakat eingefügt.
Anna Scholz
Zwei Sachen sind revolutionär an Hohlweins Plakat. Erstens: Er richtet es radikal an der Zielgruppe aus. Und erzählt ihnen kleine Bildergeschichten: vom exquisiten, luxuriösen Leben. "Hey, kauf diese schwarz-weiß-karierte Reithose und du wirst genauso lässig über deine Jagdgründe flanieren können." Schaut euch das Bild in unseren Shownotes an – oder eben in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" von der Kunsthalle München und dem Münchner Stadtmuseum – und ich verspreche euch, dass ihr auch in schwarz-weiß-karierter Reithose über eure Jagdgründe flanieren wollt. Und zweitens: Hohlwein erzählt diese Miniatur-Geschichten anhand einer Person, die zentral im Mittelpunkt steht. Das macht’s auch wieder schön emotional und verführerisch. So wie Influencer*innen uns heute auf der ganzen Welt verführen.
Ab der Scherrer-Kampagne kann Ludwig Hohlwein sich vor Plakat-Aufträgen nicht mehr retten. Generell boomt das Plakat-Geschäft. Das Plakat – als das Medium, das das Bild ins Zentrum rückt – wird neben der Zeitung zum Leitmedium der damaligen Zeit.
Henning Rader
Es gründen sich die ersten Vereine, wo Plakate gesammelt werden, wo man sich darüber unterhält, Plakate tauscht, Museen beginnen, Plakate zu sammeln und Ausstellungen zu erarbeiten und zu präsentieren. Also ist ein wahnsinniger Hype, der damals entsteht. Und ja, insofern wurden natürlich Plakate auch abgerissen.
Anna Scholz
Als Liebhaberstück für die Privatsammlung zu Hause. Kurz: Plakate haben extreme Gefühle ausgelöst. Positiv wie negativ.
Henning Rader
Die Kritik gegen die Plakate richtete sich vor allem gegen die Allgegenwärtigkeit und die Aufdringlichkeit, die Niveaulosigkeit der Plakate.
Anna Scholz
In einem Zeitungsartikel der Allgemeinen Zeitung von 1881 regt sich ein Kolumnist ausführlich über die Verschandelung der Stadt auf:
"Kein Missverhältnis störte bisher die klassischen Linien, und selbst der ungebildete Wanderer empfindet die Wirkung eines wahrhaft schönen Anblickes. Und nun stellt man links und rechts an die Ecken der Universität und das Georgianum zwei jener scheußlichen Plakatsäulen, deren Harlekinsüberzug die ganze Umgebung so recht gründlich schändet.
Bleibe die moderne Marktschreierindustrie doch wenigstens unseren klassischen Städten fern."
Henning Rader
Letztlich saß die Kritik aber eigentlich viel tiefer, denn letztlich ging es darum, dass mit der Industrialisierung sich die Wirtschaftsform radikal verändert hatte. Dadurch hatte sich natürlich auch die Kommunikationsform verändert. Es kamen Plakate auf, vor allem Bildplakate, und die Plakate wurden quasi als Synonym für die Moderne gesehen, die man als Bedrohung empfand.
Anna Scholz
Plakate haben durchaus ein bedrohliches Potenzial. Oder sagen wir allgemeiner: Bildmedien mit knappem Text. Wenn wir uns Provokateur Thomas Theodor Heine noch mal zuwenden: Ein Jahr nach der Erfindung seiner roten Dogge, 1898, veröffentlichte er eine Karikatur, die Kaiser Wilhelm II. und seine Reise nach Palästina kritisierte. Die Monarchie fühlte sich bedroht genug, dass sie Heine wegen Majestätsbeleidigung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilte. Nicht, dass Heine das gestoppt hätte. Hitler karikierte er genauso. Und musste deswegen und aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland fliehen.
Ludwig Hohlwein dagegen hat seine verführerischen Plakatkünste schon früh in den Dienst der NSDAP gestellt. Noch vor der Machtergreifung 1933.
Henning Rader
Als erfolgreicher Gestalter von Warenwerbung und von Produktplakaten konnte er nun seine Erkenntnisse nun auch in politische Werbung übertragen. Es ging darum, die Menschen auf emotionaler Ebene anzusprechen, mit Signalfarben zu arbeiten. Das war alles neu für die damalige Zeit. Und das verstanden die Nationalsozialisten in herausragender Weise für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und zu instrumentalisieren.
Anna Scholz
Damit hat Ludwig Hohlwein das öffentliche Bild und die öffentliche Kommunikation der Nationalsozialisten maßgeblich geprägt. Das ist das Gefährliche daran, wenn Kommunikation so emotional ist: Sie kann sehr effektiv manipulieren.
Bottomline: Kommunikation war auch früher schon emotional, nicht erst heute. Denn schon die moderne Plakatkunst hat herausgefunden, wie unsere Aufmerksamkeitsökonomie am besten funktioniert. Ein einprägsames Bild mit kurzem Text catcht unsere Aufmerksamkeit. Je zugespitzter, desto besser. Je emotionaler das Bild und je zugeschnittener auf die Zielgruppe, desto effektiver. Je mehr Hund, desto erfolgreicher. Und was früher auf diese Weise auf den wuseligen Straßen industrialisierter Städte kommuniziert wurde, findet heute überwiegend digital statt. Was passiert aber, wenn wir heute die Litfaßsäule quasi die ganze Zeit in unserer Hosentasche mit uns herumtragen? Und damit zurück ins Heute.
An einem guten Tag sollen laut Statista auf TikTok 550.000 Videos hochgeladen werden. Wenn wir also bei unserem Litfaßsäulenbild bleiben, könnte man potenziell 550.000 neue "Plakate" an einem Tag sehen. Nur dass die sich auch bewegen, wild blinken und mit einem reden. Mal von der absolut überwältigenden Info-Flut abgesehen, ist die entscheidende Weiterentwicklung zu 1900 die Personalisierung der eigenen Litfaßsäule. Da wären wir wieder bei meiner heilen Social-Media-Blase aus Hundebabies und irischen Schauspielern. Die kreiert man sich ganz leicht, indem man dem Algorithmus der App sagt, was man mag:
Prof. Anna Kümpel
Wenn Instagram beispielsweise sieht, dass ich mir ständig Reels mit Hundebabies anschaue, dann werde ich beim nächsten Mal auch mehr Hundebabies kriegen.
Anna Scholz
Das ist Kommunikationswissenschaftlerin Anna Sophie Kümpel. Von ihr haben wir vorhin schon mal gehört.
Prof. Anna Kümpel
Also das sind natürlich erst mal so, ich sag mal ganz menschliche Prozesse, dass man auf solche emotionalen Inhalte irgendwie stärker reagiert, damit natürlich dann auch auf den Plattformen vielleicht stärker mit diesen Inhalten interagiert. Und die Algorithmen merken dann: Aha, das scheint bei vielen Leuten anzukommen. Das zeige ich vielleicht noch mehr Leuten, um eben auch mein Ziel, die Leute auf der Plattform zu halten, hier dann weiter verfolgen zu können. Das heißt, es sind dann tatsächlich so selbstverstärkende Prozesse.
Anna Scholz
Man könnte auch sagen: ein Emotions-Ping-Pong, das sich stets steigert und auch andere Leute anstecken soll. Ein Geschäftsmodell, von dem die großen Plattformen sehr stark profitieren. META, der Mega-Konzern hinter Facebook, WhatsApp und Instagram, hat 2024 einen Gewinn von 60 Milliarden Euro gemacht. So viel wie noch nie zuvor.
Anna Scholz
Professorin Kümpel leitet…
Prof. Anna Kümpel
…den Forschungs- und Lehrbereich Medienrezeption und Medienwirkungen an der LMU München.
Anna Scholz
Dort erforscht sie, wie Soziale Medien unsere Informationsnutzung, Meinungsbildung und damit gesellschaftliche Diskurse verändern. Ein wichtiger Aspekt ist, wie prägend der soziale Kontext für unsere Wahrnehmung von Posts ist. Also wer liked, teilt und kommentiert was wie. Der soziale Kontext ist immer wichtig für unsere Wahrnehmung. Aber online potenziert er sich enorm.
Prof. Anna Kümpel
Wir haben beispielsweise mal eine Studie durchgeführt, da haben wir Leuten ein und denselben Nachrichtenartikel gezeigt. Der einen Gruppe haben wir dazu dann aber negative Kommentare gegeben, die sozusagen gesagt haben "Was ist denn das für ein qualitativ minderwertige Artikel" und sozusagen den kritisiert haben. Der anderen Gruppe haben wir positive Kommentare gegeben, die also sozusagen die Qualität gelobt haben. Und obwohl es der genau gleiche Artikel war, haben wir dann rausgefunden, dass tatsächlich die Leute, die die negativen Kommentare gesehen und gelesen haben, den Artikel dann tatsächlich auch schlechter evaluiert haben. Die positiven Kommentare im Gegenteil haben aber nicht dazu geführt, dass er irgendwie besser beurteilt wurde. Und das finde ich schon sehr spannend.
Anna Scholz
Ich muss das noch mal betonen. Das Ergebnis war: Negatives beeinflusst unsere Wahrnehmung und das sogar stärker als Positives. Und das überrascht mich gar nicht. Ich höre Kritik an mir auch lauter als Komplimente. Soweit der Teil, wie die menschliche Psyche programmiert ist. Unsere eigene Programmierung trifft dann auf die Programmierung des Algorithmus, der all das potenziert, was ihm vorgelegt wird.
Prof. Anna Kümpel
Da kann man eigentlich auch schön wieder diese virale Metapher dann anwenden. Also je häufiger ich einem Virus ausgesetzt bin, desto wahrscheinlicher ist es ja, dass ich selber krank werde. Und so ähnlich ist es da auch. Je häufiger ich einen Inhalt sehe und vielleicht auch eine Emotionalität, die mit einem Inhalt verbunden ist, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich das auch auf mich überträgt und ich dann vielleicht wütender werde oder entsprechend stärker in meinen Emotionen bin.
Anna Scholz
Das heißt, wir reagieren nicht nur mit starken Gefühlen auf Posts, sondern können andere damit auch noch anstecken oder uns anstecken lassen. Das Ansteckungsrisiko ist in Zeiten digitaler Kommunikation besonders hoch, weil wir einer massiven Flut an Bildern ausgesetzt sind. Also: Ja, Soziale Medien machen uns irgendwie emotionaler, insbesondere wütender oder ängstlicher. Aber sie können nur verstärken, was sowieso schon in uns drin ist. Das ist bei Hundebabies harmlos. Wenn es aber um journalistische Inhalte oder Meinungsinhalte geht…
Prof. Anna Kümpel
Das ist insofern auch interessant bis bedenklich, weil wir eben auch wissen, dass nicht jeder auf Social Media kommentiert, sondern nur eine kleine Minderheit und die Meinungen somit auch nicht, nicht mal ansatzweise irgendwie repräsentativ wären oder die Bevölkerungsmeinung widerspiegeln. Aber die haben dann trotzdem einen Einfluss auf uns. Und wenn es eben gerade diese negativen Meinungen sind, da wissen wir eben auch, dass die eben durch den Algorithmus dann noch mal zusätzlich gepusht werden, was dann eben auch für die, für die Wahrnehmung dann natürlich noch mal Implikationen hat.
Anna Scholz
Ein Gedanke lässt mich da nicht los. Auf Social Media findet ja alles statt: Journalismus, Unterhaltung, Bildung, Meinungsbildung und dann eben auch Werbung. Aber alle Posts nutzen ein und dieselben Mittel: die der Werbung. Also die Verknappung, die Zuspitzung, die Emotionalisierung… Ja, das catcht unsere Aufmerksamkeit und Gefühle. Und je mehr Posts existieren, desto mehr muss man um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Aber es vermischt auch Dinge, die nicht miteinander vermischt werden sollten. Komplexe Inhalte können in einem 60-sekündigen Video oder einem Hochkantbild einfach nicht transportiert werden. Wenn wir uns also mehr und mehr digital informieren, verkürzt und beeinflusst das natürlich auch gesellschaftlich wichtige Debatten. Das macht mir Sorgen, weil das schnell dazu führen kann, dass gefühlte Wahrheiten wichtiger als Fakten werden, sowie sachliche Argumente untergehen. Können wir das wirklich gebrauchen, wenn es zum Beispiel um die Klimakrise geht? Gleichzeitig sollten wir Debatten über für die Menschheit wichtige Themen nicht wie Roboter führen. Leidenschaft ist ja auch sehr produktiv.
Prof. Anna Kümpel
Eine Emotion hält mich ja erst mal fest an dem Thema und animiert mich vielleicht auch dazu, selber zu einem Thema Position zu beziehen, mir dazu Gedanken zu machen. Das heißt, es kann eben ein Anstoß sein für mich, überhaupt mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Anna Scholz
Das haben wir zum Beispiel an den im Netz sehr erfolgreichen Aktivismus-Kampagnen wie #metoo und #blacklivesmatter gesehen.
Prof. Anna Kümpel
Es kann sicherlich hilfreich sein, in einem ersten Schritt mal so eine Emotion auch aufzumachen und zuzulassen, um die Leute erst mal an das Thema heranzuführen und dann aber wieder einen Schritt zurückzugehen und zu sagen okay, jetzt versuchen wir alle mal ein bisschen ruhiger zu werden und uns über die eigentlichen Argumente auszutauschen. Aber wie genau man diesen Schritt schafft, da habe ich leider auch keine Patentlösung.
Anna Scholz
Verdammt. Auf die hatte ich jetzt so ein bisschen gehofft.
Aber vielleicht hat uns die heutige Zeitschleife doch eine mögliche Patentlösung für unsere aufgeheizte Debattenkultur aufgezeigt? Gucken wir doch noch mal hin. Die Plakatkunst des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts hat verändert, wie im öffentlichen Raum kommuniziert wird. Die Plakatkünstler*innen der Zeit haben herausgefunden, dass Plakate dann besonders viel Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie hauptsächlich mit Bildern und knappen Texten arbeiten. Je einprägsamer und zugespitzter, desto besser. Denn das kreiert und provoziert Emotionen. Gute, wie schlechte. Und dabei sind sehr ausdrucksstarke, wirksame Werke entstanden. So wirksam, dass wir heute noch so kommunizieren.
Also die Antwort auf meine Frage, ob das Internet und Soziale Medien unsere Kommunikation verändern? Absolut. Aber es ist nicht so, dass es eine Zeit gab, in der emotionslos miteinander geredet wurde. Menschen sind von jeher Wesen voller Gefühle. Die moderne, digitale Kommunikation nutzt und verstärkt das, indem sie Inhalte stark potenziert und personalisiert. Also ja, Soziale Medien machen uns schon emotionaler, weil sie eben Mittel der Werbung nutzen, die uns emotionaler machen sollen. Leider ist es so, dass negative Gefühle von Menschen wie von Algorithmen bevorzugt werden. Schreien wir uns gerne an? Ja, kind of. Das war 1900 so. Das ist 2025 so. Schreien wir uns aber heute mehr denn je an? Gefühlt: ja. Faktisch: Nicht unbedingt. Aber es ist durchaus eine Tendenz zu erkennen, dass negative Gefühle und Reaktionen in der digitalen Kommunikation bevorzugt werden. Was dann wiederum Auswirkungen auf unser Offline-Leben hat.
Eine Lösung ist vielleicht, zu verstehen, wie uns Inhalte präsentiert werden. Dass sie eben in erster Linie unsere Aufmerksamkeit und Gefühle wollen. Und wir können uns ja auch gerne ein bisschen von den Gefühlen anderer anstecken lassen. Aber bevor wir kommentieren, teilen und all die Gefühle aus dem digitalen Raum in den analogen tragen – wie wäre es, wenn wir eine alte Technik aus der Therapie anwenden? Erst einmal tief ein- und wieder ausatmen bevor wir handeln, bevor wir etwas posten oder kommentieren. Es funktioniert, ich schwöre. Am Ende des Tages müssen wir unsere Gefühle eben immer selbst regulieren.
Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie reimt sich. Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch zukünftig Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit Fernweh und Fremdenhass. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Die genannten Werke findet ihr digital in den Shownotes und analog noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich". Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München. Schaut doch mal vorbei!
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Carolina Torres und das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums, Autorin dieser Folge ist Janina Rook.
Wir haben natürlich wieder ein schönes Goodie für euch zum Schluss. Als die Künstler*innen um 1900 rum erkannten, wie sehr Bilder als dominantes Kommunikationsmedium funktionieren, hat das ganz schön seltsame Blüten getrieben. Zum Beispiel hat man gerne vergessen, dass am Ende noch erkennbar sein muss, wofür eigentlich Werbung gemacht wird.
Henning Rader
Und ein ganz schönes Beispiel, das eben diese Diskrepanz zwischen Bild und Inhalt darstellt, ist ein Plakat von Bruno Paul, das er für eine Kunstausstellung entworfen hat und auf dem sind zwei Vögel zu sehen, zwei Reiher, übrigens auch ein ganz beliebtes Jugendstilmotiv, und die sind aber komplett auf ihre Konturen und auf ihre Flächen reduziert. Also sehr, sehr plakatives Blatt. Auch die Federn erscheinen wie Mosaike, also wie Ornamente auf dem Plakat. Und nur über den Text wird ersichtlich, dass es um eine Kunstausstellung, nämlich Kunst im Handwerk geht. Und nicht jeder der damaligen Zeitgenossen hat wohl sofort verstanden, wofür dieses Plakat wirbt. Es gibt eine ganz lustige Karikatur in der Zeitschrift "Die Jugend". Da ist ein Pärchen abgebildet, was vor dem Plakat steht und sich's anschaut und der Mann dann zur Frau sagt sinngemäß so etwas wie: "Schau mal her, da gibt es eine Vogelausstellung, da geh ma hin."
Anna Scholz
Das Plakat von Bruno Paul findet ihr auch in der Online-Sammlung und in der Ausstellung. Geht mal hin. Tschüss!
Gierig auf Neues? Von Fernweh und Fremdenhass
Folge 6
Avocados, Kaffee, Tee, Zimt – Produkte aus fernen Ländern gehören längst zum deutschen Alltag. Doch wenn es darum geht, dass Menschen aus anderen Kulturen hierherkommen, gibt es häufig Vorbehalte. Ein Widerspruch, der spätestens seit der letzten Bundestagswahl nicht zu übersehen ist. Wie lässt sich dieser Spagat in der Haltung erklären?
Gemeinsam mit Susanne Glasl, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung Grafik/Gemälde des Münchner Stadtmuseums, reisen wir zurück in die Anfangszeit der Globalisierung. Als der Ausbau der Handelsrouten den Import von Waren aus dem sogenannten Orient massiv vorantrieb, wurden exotische Produkte, Reiseberichte sowie Fotografien und Illustrationen fremder Länder auch für das Bürgertum zugänglich. Die Sehnsucht nach der Ferne wuchs – und sie wurde von einem kolonialistischen Weltbild geprägt: Europäer betrachteten sich als überlegen gegenüber den Völkern ihrer Kolonien. Diese Denkweise hat tiefe Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken – wie der Historiker und Kolonialforscher Dr. Kim Todzi von der Universität Hamburg erklärt.
Shownotes
Inhalt
[00:00] Einleitung
[08:46] Reise in die Vergangenheit Interview mit Susanne Glasl, Mitarbeiterin der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
[21:25] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Dr. Kim Todzi, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Globalgeschichte an der Universität Hamburg
[31:28] Zusammenfassung
[33:40] Goodie(s)
Abbildungen / Verweise
Gebhardt Fugel, Paul Rieth als Japaner; aus dem Karikaturen-Album des Künstler-Sänger-Vereins, Münchner Stadtmuseum
Hugo von Habermann, Baronesse Hertling als Geisha, 1887, Münchner Stadtmuseum
Fa. Lith. Adolph Friedländer, "Das afrikanische Dorf" (Originaltitel), um 1910, Münchner Stadtmuseum
Ludwig Hohlwein, „MITTELMEER-FAHRTEN / Norddeutscher Lloyd Bremen“ (Originaltitel), 1913, Münchner Stadtmuseum
Quellen
https://www.deutschlandfunkkultur.de/zwischen-emanzipation-und-webstuhl-100.html
https://reiseanalyse.de/wp-content/uploads/2024/03/RA2024_Erste_Ergebnisse_Broschuere.pdf
https://taz.de/Rekord-rechtsextremer-Straftaten/!6069380/
https://www.instagram.com/p/DGNW2ZOM487/?hl=de&img_index=1
https://www.ifo.de/pressemitteilung/2025-02-18/mehr-auslaender-erhoehen-die-kriminalitaetsrate-nicht^
https://www.youtube.com/watch?v=MvheR2KJYyY
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/donald-trump-gaza-umsiedlung-voelkerrecht-100.html
https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar1904_xviii_.pdf
https://weltweit-erfolgreich.de/laender/land/LKA/uebersicht/#:~:text=Die%20wichtigsten%20Exporte%20sind%20Textilien,Deutschland%20und%20China%E2%80%8B%E2%80%8B.
https://cdn.henleyglobal.com/storage/app/media/HPI/Henley%20Passport%20Index%202024%20June%20Global%20Ranking.pdf
https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/507013/black-lives-matter-eine-bestandsaufnahme/
https://www.br.de/nachrichten/bayern/muenchen-rund-250000-demonstrieren-gegen-rechtsruck,UcCWtSn
Weiterführende Ressourcen
- Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, erhältlich im Online-Shop
- Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum(at)muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Janina Rook
Redaktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkription
Anna Scholz, Host
Susanne Glasl, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung Graphik / Gemälde, Münchner Stadtmuseum
Dr. Kim Todzi, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Globalgeschichte an der Universität Hamburg
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Anna Scholz, Host
Es ist Januar 2020. Ich stehe mit dem Surfbrett unterm Arm am Strand. Hinter mir säumen Palmen den ewig langen, tropischen Sandstrand. Unter mir umspült die Brandung meine Füße, ich wackel mit meinen Zehen. Und vor mir: die unendliche, blaue Weite des Indischen Ozeans. Wie so viele Europäer*innen hier in Sri Lanka bin auch ich zum Surfen hier. Sri Lanka ist ein Surferparadies. Und es ist neben Indien das Land des Ayurveda – die traditionelle Heilkunst, die stark auf Balance und Achtsamkeit setzt. Aber: Hier herrschte auch bis vor gar nicht so langer Zeit Bürgerkrieg. 26 Jahre lang. Bis er 2009 blutig beendet wurde. Am Abend bin ich vollkommen platt vom Surfen und mega hungrig. Das Essen auf der Insel ist fantastisch. Ich sitze in einem Restaurant und bestelle Reis und Curry. So simpel und so gut.
Heute bin ich Mitte 30, aber schon mit zwölf hat mein Fernweh angefangen. Ich habe davon geträumt, aus meiner für mich langweiligen Kleinstadt zu fliehen und endlich mal was zu erleben. Ich wollte große Abenteuer wie im Fernsehen. Mit 16 gings dann endlich los: Ich habe ein Austauschjahr in den USA gemacht. Später ein Erasmussemester in Finnland. Den Master in Schweden. Schließlich noch ein Jahr arbeiten in den Niederlanden. Aber in Sri Lanka ist der culture clash für mich mit am Größten: Im Wasser waren vorhin nur einheimische Männer – surfende Frauen sind in der Regel Touristinnen. Auch auf Partys habe ich hauptsächlich Männer gesehen. Das ist ein Widerspruch hier: Frauen finden in der Öffentlichkeit nur wenig statt, also, wenn es um Freizeitgestaltung geht. Und doch ist Sri Lanka das erste Land der Welt, das eine Frau zur Premierministerin gewählt hat. Und das schon 1960!
Während man also nur wenige singhalesische Frauen am Strand sieht, habe ich noch nicht einmal darüber nachgedacht, ob es okay ist, ins Wasser zu gehen. Und wenn ja, wie. – Ich habe mich einfach bewegt. Frei. Das ging, weil ich Europäerin bin. Und weiß. Auf der Welt geht ziemlich viel, wenn man weiße Europäer*in oder Nordamerikaner*in ist. Für die meisten anderen nicht.
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren. Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Und diesen Spagat zwischen Fernweh und Rassismus, den halten wir gesellschaftlich schon ziemlich lange – oder? Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen. Hi, ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. In der ersten Staffel von "Zeitschleifen" soll es um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen – aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Ich erschlage euch jetzt mal mit ein paar Zahlen, also setzt euch vielleicht besser einen Helm auf. 54,6 Millionen Deutsche sind 2023 gereist. Und 78% von diesen Reisen gingen ins Ausland. All das ist Rekord laut der Reiseanalyse 2024 vom Verein "Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen".
Aber die Liebe für andere Länder hört da nicht auf. Wir holen uns das Exotische auch gerne nach Hause. Wie zum Beispiel Avocados – liebe ich. Laut Statistischem Bundesamt haben wir 2023 sehr viele Avocados nach Deutschland importiert. Genauer: über 150.000 Tonnen. Das ist drei Mal das Gewicht der Titanic. Auch das ein Rekord. Man kann sagen: Wir Deutsche haben eindeutig Fernweh. Das bin nicht nur ich.
Leider gibt’s da auch einen anderen Rekord, der mich ziemlich traurig und wütend macht. Laut Statistik des Bundeskriminalamtes wurden im Jahr 2024 41.406 Straftaten begangen, die rechtsextrem motiviert waren. Das ist ein Anstieg von über 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr!
Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 war die Begrenzung von Zuwanderung das dominierende Thema. Die meisten Stimmen haben die Parteien bekommen, die eine besonders abgrenzende und intolerante Haltung dazu hatten: Die konservative CDU und die vom Verfassungsschutz als teilweise rechtsextrem eingestufte Partei AfD.
Eine Behauptung, die von diesen Parteien immer wieder aufkam: Migrant*innen und Ausländer*innen würden für höhere Kriminalitätsraten in Deutschland sorgen. Sie seien also besonders gefährlich. Belegen tun die Politiker*innen das nicht. Aber ich widerlege das gerne. Mit einer Studie der ifo, dem renommierten Institut für Wirtschaftsforschung, die 2025 veröffentlicht wurde. Für die Studie hat man sich die Kriminalitätsstatistiken der Polizei angeguckt und zwar pro Landkreis. Von 2018–2023. Dann hat man geschaut, wie viele Ausländer*innen im jeweiligen Landkreis im selben Zeitraum zugezogen sind. Und dann hat man geguckt, ob im Zusammenhang damit die Kriminalitätsrate gestiegen ist. Ergebnis: nein. Ausländer*innen machen Deutschland nicht krimineller. Man kann also sagen, dass im Wahlkampf eher mit Gefühlen als mit Fakten gegen Migrant*innen gehetzt wurde. Das wurde auch deutlich bei öffentlichen Stellungnahmen von Politiker*innen diverser Parteien nach den Attentaten in München und Aschaffenburg 2025. Sie instrumentalisierten die Taten sofort für ihren Wahlkampf.
Apropos Hetze: Auch meine Freund*innen mit Migrations-Background berichten, dass sie auf der Straße und natürlich auch online immer öfter rassistisch angepöbelt werden. Lasst uns also das Kind beim Namen nennen: Deutschland hat ein Rassismus-Problem. Natürlich nicht nur Deutschland. Die westliche Welt insgesamt. Sogar der Imperialismus feiert ein Comeback. Länder sollen einfach wieder einverleibt werden. Wie im 19. Jahrhundert.
Donald Trump
We have the opportunity to do something that could be phenomenal. And I don’t want to be cute. I don’t want to be a wise guy but “The Riviera of the Middle East” – this could be something.
Anna Scholz
Ja, sorry, ich kann ihn ja auch nicht mehr hören, aber das war mal wieder: Donald Trump. Auf seiner Pressekonferenz vom 04.02.2025 mit dem Israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Da sagte der US-Präsident in Immobilien-Mogul-Manier, dass er für Gaza den Plan hat, es platt zu machen, “to level the site.”, wie er sagt. Um dann aus Gaza die, Zitat: “Riviera des Mittleren Ostens” zu machen. Quasi ein Urlaubsresort.
Leute, was läuft hier schief? Wie kommt es, dass wir gleichzeitig so viel Liebe und so viel Hass für Andere und das Andere haben? Das kann sich im ganz Großen zeigen, dass man eine Volksgruppe umsiedeln will, um ein Urlaubsparadies zu bauen. Was natürlich nicht nur absurd ist, sondern auch gegen das Völkerrecht verstößt. Oder im Kleinen – für uns selbst kaum sichtbar und ungewollt – dass wir unsere Privilegien beim Reisen nicht checken. Wie kommen wir aus dieser Schieflage raus? Das wollen wir heute beantworten. Ohne in apokalyptische, anxiety-geschwängerte Gedankenspiralen zu fallen. Sondern irgendwie hoffnungsvoll. Ich geb’ mein Bestes. Und zum Glück tue ich das nicht alleine. Hier ist schon mal Susanne Glasl vom Münchner Stadtmuseum, sie ist Mitarbeiterin der Sammlung Grafik/Gemälde:
Susanne Glasl, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung Grafik/Gemälde, Münchner Stadtmuseum
Ich denke, zum einen ist es immer gut zu sehen, dass eine gewisse Gleichzeitigkeit von Strömungen in der Gesellschaft eigentlich immer vorhanden sind. Das heißt, wir haben jetzt eben viel über Stereotypisierungen und rassistische Diskriminierungen gegenüber nichteuropäischen Kulturen gesprochen. Gleichzeitig gab es aber auch schon damals die Idee und die Bemühungen darum, diese Kulturen ernst zu nehmen und einen gewissen Umgang mit auf Augenhöhe herzustellen. Das sollte man nicht aus dem Blick verlieren. Das kann einem dann auch etwas Mut machen, dass es nie ganz so dunkel aussieht, wie man das auf den ersten Blick so wahrnimmt.
Anna Scholz
Danke schon mal dafür, Susanne. Wir wissen aber auch, dass der moderne Rassismus seine Wurzeln im Kolonialismus hat. Der boomte in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert wie sonst nur der Hunger nach exotischen Kulturgütern. Ok. Wird dringend Zeit, in die Vergangenheit zu reisen.
In meiner Fantasie würde ich 1909 so reisen: Ich stehe mit dem Koffer unterm Arm geklemmt an der Reeling eines riesigen Dampfschiffs. Hinter mir säumen viele Reisende aus ganz Europa das oberste Deck. Und dann werden wir reingespült, in den Hafen von Kairo. Und vor mir: das unendliche, laute Gewusel der größten Stadt Nordafrikas. Und wenn ich ehrlich bin ist das eigentlich ein Mix aus den Filmen “Tod auf dem Nil”, “Die Mumie” und “Indiana Jones: Jäger des Verlorenen Schatzes”. Alles Filme, die irgendwann in den 1920ern und 1930ern spielen. Aber sich alle dieser Stereotypen des sogenannten Orients bedienen.
Die Realität würde sehr wahrscheinlich eher so aussehen: Als Frau und Spross einer Arbeiterfamilie hechte ich auf einer vielbefahrenen Straße in München zur Arbeit. Ich spurte vorbei an den vielen Plakaten, die mir von der weiten Welt erzählen. An einer Wand hängt ein Plakat mit drei Geishas, die Zigaretten aus Japan anpreisen. An der Litfaßsäule an der nächsten Ecke macht ein Theater Werbung für Sent M’Ahesa, eine “altägyptische Tänzerin”, die bauchfrei Hieroglyphen interpretiert, aber eigentlich Else von Carlberg heißt und aus Riga kommt. Mir ist das egal, denn so lange ich mir das Reisen selbst nicht leisten kann, soll die Welt eben zu mir kommen.
Deutschland war damals schon ziemlich besessen von fernen Ländern und Kulturen.
Susanne Glasl
Mein Name ist Susanne Glasl. Mein Spezialgebiet in meiner persönlichen Forschung ist der Orientalismus des 19. Jahrhunrtdert.
Anna Scholz
Wenn man im 19. und frühen 20. Jahrhundert von “Orient” redet, meint man damit ein ziemlich großes Gebiet, das von Marokko über Indien bis Japan reicht. Es wird da sehr viel in einen Topf geschmissen, um es milde auszudrücken.
Susanne Glasl
Deutschland war damals ein Kolonialreich. Wir hatten aktive deutsche Kolonien in Afrika, unter anderem aber auch auf den polynesischen Inseln, zum Beispiel in Deutsch Samoa, wie es damals genannt wurde. Und die Kolonialisierung von fremden Ländern und fernen Kulturen wurde als etwas Positives gesehen, also eine Erweiterung des Deutschen Reiches.
Anna Scholz
Man dachte, dass man diese "unzivilisierten" Kulturen mit deutscher Kultur “retten” könne. Und die Deutschen wollten sehr viele “retten”. 1914 war das Deutsche Reich die drittgrößte Kolonialmacht der Welt, hinter Großbritannien und Frankreich. Zwei große Konkurrenten, denen man in Sachen Kolonialismus und Machteinfluss in nichts nachstehen wollte. Zu den deutschen Kolonien gehörten unter anderem Teile von China, Papua-Neuguinea, Kongo, Ghana und Namibia. Letzteres hat eine besonders blutige Geschichte. Mit dem deutschen Völkermord an Herero und Nama.
Es gab durchaus vereinzelte Stimmen aus der Politik, die dies zurecht kritisierten. Die wurden jedoch überhört. Denn die erste Welle der Globalisierung bringt den Deutschen und anderen westeuropäischen Ländern viel Aufregendes, dank des Ausbaus von Handelsrouten.
Susanne Glasl
Und das führte dazu, dass man auf einmal auch als bürgerliches Mitglied der Gesellschaft viel mehr Zugang und Zugriff auf Produkte des sogenannten Orients, in Anführungszeichen, von fernen Ländern und Kulturen hatte und viel mehr in Kontakt gekommen ist mit Illustrationen, mit Fotografien, mit Reiseberichten. Und das hat zu einer großen Welle des Enthusiasmus, eines Trends im Grunde, in ganz Westeuropa dazu geführt, zum Orient hin.
Anna Scholz
Das führte auch zum Konsum vieler Luxusgüter. Tee aus China, Kimonos aus Japan, Architektur aus Marokko. All das konnte man jetzt bequem zuhause konsumieren. Wo sehr gerne konsumiert wurde. Mit dem Einzug der Industrialisierung und dem damit einhergehenden großen Angebot an Produkten, verstanden sich Bürger*innen des Deutschen Reiches immer mehr als Konsument*innen. Kaufen – it’s a thing!
Susanne Glasl
Und somit wurde diese Region eben als eine Art Sehnsuchtsort immer populärer. Ein Sehnsuchtsort, auf den viel Fantasien, westliche Fantasien projiziert wurden. An dem man sich loslösen kann aus den Fesseln der Zivilisation, wie sie im Westen damals bestanden hat. Also dieses Fernweh, diese Fernlust, war also ein ganz großes Leitmotiv dieser Zeit.
Anna Scholz
Diese Fernlust ist also mit exotischen Produkten sehr eng verknüpft. Ein Beispiel: der Kimono. Zwei davon kann man in der Ausstellung “Jugendstil. Made in Munich” finden, einem gemeinsamen Projekt des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München. Genauer gesagt sind es zwei Porträts von zwei Münchner*innen, die Kimonos tragen. Da gibt es einmal das Ölbild “Baronesse Hertling als Geisha” von Hugo von Habermann. Und “Der Künstler Paul Rieth als Japaner” von Gebhard Fugel. Die Baronesse ist in einen weißen Kimono gekleidet, mit rosa Blüten im dunklen Haar. Der Künstler trägt einen roten Kimono und unter einem Sonnenschirm. Beide gucken verschmitzt den oder die Betrachter*in an.
Susanne Glasl
Sie beide sind sich bewusst, dass sie etwas, etwas Transgressives möglicherweise machen, etwas Verspieltes, etwas Exzentrisches. Das hat was ganz Prickelndes. Deshalb hat das auch die Bohème damals und die Avantgarden, auch der Jugendstil, waren ganz vorne mit dran, diese exotischen, orientalistischen Motive und Produkte zu konsumieren, sich eben auch selbst teilweise in diesen Kleidern und Gewändern, also Kostümen muss man sagen, des Orients zu kleiden und sich in dem Sinne zu stilisieren, das war etwas, was, ja, ein Statussymbol im Grunde.
Anna Scholz
Wenn ich mir das Porträt vom Jugendstil-Künstler Paul Rieth so angucke, macht es irgendwie Spaß. Es ist humorvoll. Lässig. Man hat das Gefühl, er liebt die japanische Kultur. Aber er trägt den Kimono auch eher wie… ja, wie Susanne schon sagt, wie ein Kostüm. Paul Rieth inszeniert sich selbst. Kreiert eine öffentliche Persona als gebildeter Mann von Welt. Würde er heute leben, wäre es wahrscheinlich sein Social-Media-Profilbild. Aber um eine wirkliche Auseinandersetzung mit der japanischen Kultur auf Augenhöhe geht es dem Künstler hier wohl weniger.
Susanne Glasl
Ich glaube, der Reiz liegt eben tatsächlich darin, das Fremde oder das Exotische in Besitz zu nehmen. Es geht nicht mehr so sehr darum, wie es noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts vielleicht noch mehr der Standard war: Ich reise in den Orient und habe dort eine Fremdheitserfahrung, sondern ich bleibe zuhause. Ich bleibe in meinem Kontext und kann aber dieses Fremdartige in Besitz nehmen als Produkt nicht, nicht als Gegenüber, sondern als Produkt, das ich konsumieren kann.
Anna Scholz
Das sieht man besonders gut an der Plakatkunst des Jugendstils. Über die haben wir in Folge 5 gesprochen, hört da gerne rein, wenn es euch interessiert. Das Wichtige an der Plakatkunst hier nochmal in Kürze: Sie “erfindet” quasi die sehr reduzierte Darstellung – große Farbflächen, knapper Text, sehr prägnant, sehr darauf fokussiert, die Aufmerksamkeit von Passant*innen zu catchen. Sie kreiert damit die moderne Werbung, wie wir sie heute noch kennen.
Ein Plakat, das auch in der Ausstellung “Jugendstil. Made in Munich” hängt und ihr wie immer in den Shownotes findet, ist von Ludwig Hohlwein. Dem König der Plakatkunst. Das Plakat ist von 1913 und heißt “Mittelmeerfahrten Norddeutscher Lloyd Bremen”. Es ist Werbung für eine Schifffahrtsgesellschaft. Man sieht im Vordergrund einen Schwarzen Jungen in einem knallroten Gewand. Er reitet auf einem Esel, auf den oder die Betrachter*in zu. Im Hintergrund sehen wir silhouettenhaft Dromedare und ein Dampfschiff. Und ansonsten ist das Bild sehr flächig und leer: Die untere Hälfte ist eine beige Fläche, die obere orange. Typisch für ein Werbeplakat ist es einfach sehr reduziert.
Susanne Glasl
Es ist kein Hinweis auf eine größere Stadt, auf eine Metropole, auf eine Hochkultur. Es scheint eine rein agrarbasierte Kultur zu sein. All das sind natürlich rassistische und koloniale Vorurteile und Stereotypisierungen, die mit der tatsächlichen Kultur vor Ort in Nordafrika wenig zu tun hat, die aber ein Bild der dortigen Kultur und Verhältnisse dem westlichen Betrachter vermitteln sollen. Die Abenteuerlichkeit und Fernweh und die Fantasie von “1001 Nacht” den Betrachter näherbringen soll.
Anna Scholz
Man könnte jetzt sagen, wie soll ein Plakat es auch schaffen, mit seinen reduzierten Mitteln komplexe Kulturen darzustellen? Klar. Aber problematisch wird es, wenn das die einzigen Bilder sind, die man von einer anderen Kultur sieht.
Um 1900 herum wird das Plakat neben der Zeitung zu dem Massenmedium schlechthin. Es ist das einzige Medium der Zeit, das das Bild ins Zentrum stellt. Fotos sind noch nicht zum Massenmedium aufgestiegen. Und Gemälde hängen an wenigen Orten, in Museen, Häusern oder Wohnungen. Aber Plakate, die hängen einfach überall in der Stadt. Und viele von diesen Plakaten bewerben exotische Kulturgüter mit Darstellungen von Menschen dieser anderen Kulturen. Wie zum Beispiel unser “Mittelmeerfahrten”-Plakat hier. Aber diese Bilder sind so verknappt, dass sie stereotyp werden. Diese Stereotypen festigen rassistische Vorstellungen, wie eben “der unzivilisierte Orient”. Und die werden so erst massenhaft unter die Leute gebracht. Rassistische Bilder gab es natürlich auch schon vorher. Aber eben eher für das Großbürgertum und die Elite im Museum oder Salon. Jetzt werden sie für die breite Masse der Gesellschaft zugänglich.
Susanne Glasl
Diese rassistischen Stereotype sind dann so allumfänglich und überall antreffbar, dass sie in gewisser Weise zur Realität werden. Man nimmt das dann einfach als normalen Teil der Alltagswelt da und so diese Attitüde überträgt sich dann natürlich auch auf den eigenen Umgang mit den Kolonien oder mit anderen Kulturen.
Anna Scholz
Eine weitere Begegnung mit anderen Kulturen findet damals bei den sogenannten Völkerschauen statt. Wo Menschen wie Tiere im Zoo ausgestellt werden. Beispielsweise mit “Samoa in München”. Es wurde auf der Münchner Theresienwiese 1910 ein fiktives Dorf aufgestellt, das die Lebensweise der polynesischen Samoa-Inseln im Südpazifik darstellen sollte. Samoa war zu der Zeit deutsche Kolonie. Also holte man Samoaner*innen nach München, die ihre Lebensweise vorleben sollten. Absolut menschenfeindlich, absolut rassistisch. Hier angemessen in die Tiefe zu gehen, würde leider den Rahmen dieses Podcasts sprengen. Aber wer mehr dazu lesen möchte, für den haben wir weiterführende Quellen in den Shownotes verlinkt.
Egal welche Bilder die deutsche Gesellschaft um 1900 herum von anderen Kulturen sieht – sie sind immer reine Projektionsfläche. Auf die man sehr viel projizieren kann: Positives, wie Negatives. Dekadenz, Frivolität, sexuelle Freizügigkeit, Disziplinlosigkeit, Abenteuer, Ursprünglichkeit, Freiheit, Ausbrechen aus Normen, Rückkehr zu Normen. Das Bedürfnis nach Projektion war extrem hoch. Auch für die, die es sich leisten konnten, in den sogenannten Orient zu reisen. Warum? Da gibt es mal wieder zwei gegensätzliche Strömungen. Die einen wünschten sich, sich von den strikten Normen des Deutschen Reiches zu befreien. Frei vom erdrückenden Alltag. Frei von monarchischen Hierarchien oder der prüden, europäischen Sexualmoral leben. Die anderen wollten zu den “guten, alten Werten” zurückkehren.
Susanne Glasl
Also es gibt beinahe schon apokalyptische Befürchtungen, dass also die westliche Kultur, die hohe westliche Kultur, dem Niedergang im Niedergang begriffen ist, untergeht, dass sich die westlichen Werte degradieren und sich auflösen. Und man erhofft sich, dass bestimmte authentische Werte sich vielleicht dann außerhalb Europas wiederfinden können.
Anna Scholz
Konkrete Bedrohungen waren zum Beispiel die rasant fortschreitende Technologisierung und die Frauenbewegung. Mehr zu diesen beiden Themen hört ihr in den Folge 2 und 3.
Susanne Glasl
Also die Idee, dass Frauen auf einmal mehr in den öffentlichen Raum treten, andere Positionen einnehmen, einfach hörbar und sehbar sind außerhalb der typischen klassischen, tradierten Frauenpositionen. Und das alles hat eine große Nervosität und Angst ausgelöst, in vor allem natürlich auch der männlichen Gesellschaft, aber insgesamt der Gesellschaft. Weil man gesehen hat, okay, unsere alten, tradierten Strukturen und Dichotomien lösen sich langsam etwas auf. Und das führt zum Niedergang unserer Hochkultur.
Anna Scholz
Natürlich hatte man auch ein anderes Interesse: neue Märkte zu erschließen und viel Geld zu machen. Dazu gleich mehr.
Ich fasse erst erst noch mal kurz zusammen: Im Fin-de-Siècle blühte das Fernweh der Deutschen so richtig auf. Sie waren fasziniert und inspiriert von der östlichen und südlichen Welt. Man wollte die Fremde konsumieren. Trinken. Anziehen. Es wird mehr gereist. Aber der Austausch fand selten auf Augenhöhe statt. Stattdessen geht es um Aneignung. Die eigenen, westlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Rassistische Stereotypen verfestigen sich, werden erst Alltag, dann Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Man kann sagen, der moderne Rassismus hat hier seine Wurzeln. Und damit zurück zu heute.
Newsflash für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: Offiziell wurde der Kolonialismus abgeschafft. Die Vereinten Nationen erklärten 1963, dass sie alle Formen der Rassendiskriminierungen beseitigen wollen, inklusive Kolonialismus. Der Weg dahin war blutig und beschwerlich. Viele Kriege und Aufstände waren dafür nötig. Und der Kolonialismus hat bis heute Spuren hinterlassen. Bei den kolonisierten Ländern und den Kolonialherrschern.
Dr. Kim Todzi, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Globalgeschichte an der Universität Hamburg
Ein klassischer Einstieg, den ich wähle. Ist: Sie haben mit Sicherheit irgendwas aus Baumwolle an. Sie haben mit Sicherheit ein Smartphone, das mit Seltenen Erden produziert wurde. Das heißt also, auch heute noch sehen wir ihn in bestimmten Waren, in bestimmten Produkten globale Ketten, Warenketten, die in ähnlicher Weise strukturiert wurden, wie sie im Kolonialismus strukturiert waren.
Anna Scholz
Das ist Kim Todzi. Er ist Historiker an der Universität Hamburg und forscht zur Kolonialgeschichte und Geschichte der Globalisierung. Er spielt hier auf das Metall Kobalt an. Kobalt ist essentiell für zum Beispiel wiederaufladbare Batterien in Handys und Laptops. Ohne Kobalt wären wir heute aufgeschmissen. Und ohne Kobalt könntet ihr diesen Podcast wahrscheinlich gar nicht hören. Es ist im Vergleich zu 1900 kein Luxusgut, was wir uns da aus der Ferne holen, sondern existenziell für unsere digitale Welt.
Kim Todzi
etwa im Ostkongo. Dort gibt es Minen, die teilweise unter härtesten Bedingungen Menschen zum Abbau dieser Mineralien bringen. Das heißt also, wir sehen unterschiedliche Formen Arbeitsformen von freier Lohnarbeit über fast schon Zwangsarbeitsverhältnisse in diesen Produktionsstätten. Diese Materialien werden dann an verschiedenen Standorten weiterverarbeitet, aber die Wertschöpfung findet dann eigentlich im globalen Norden statt.
Anna Scholz
Das heißt, Menschen im Ost-Kongo arbeiten für wenig bis kein Geld. Und Großkonzerne im globalen Norden, z. B. in Nordamerika oder Europa, werden dank dieser Arbeit stinkreich. Ähnliches sehen wir auch bei der Produktion von meinen geliebten Avocados. Die werden zwar in Kolumbien oder Peru tonnenweise angebaut, aber größtenteils in Europa konsumiert. Oder, wenn wir noch mal nach Sri Lanka gucken: Die Textilindustrie gehört mit 40% zum wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes. Einer der Hauptabnehmer: Europa, insbesondere Deutschland. Also dass wir in Europa heute so viel und so günstig konsumieren können, geht dank der Länder des globalen Südens. Von denen einige mal zum sogenannten Orient gehört haben. Mit dem Unterschied: Das, was früher als Luxusgut galt, konsumieren wir heute ganz selbstverständlich.
Was für uns westliche Europäer*innen heute auch selbstverständlich ist: das Reisen. Der deutsche Reisepass ist der zweitmächtigste Reisepass der Welt laut dem jährlichen Henley Passport Index.
Kim Todzi
Das heißt, Sie haben einen deutschen Pass, dann haben Sie die Möglichkeit, sehr viele Länder sehr einfach zu bereisen. Diese Möglichkeit steht Menschen aus dem globalen Süden überhaupt nicht offen, selbst wenn sie dieselbe Neugier und dieselbe Offenheit und dasselbe Interesse zu reisen hätten, dürften sie das in der Regel gar nicht in derselben Form machen wie wir.
Anna Scholz
Der sri-lankische Pass ist nur auf Platz 97 von 107. Wenn ich an meine Reise nach Sri Lanka denke, überkommt mich schon das schlechte Gewissen. Es ist nicht so, dass ich mit Scheuklappen reise und Ungleichheiten nie sehe. Aber es ist halt auch einfach, sie nicht zu sehen, wenn man sie selbst nicht erfährt. Oder aus dem stressigen Alltag raus ist und an einem schönen, fremden Ort relaxt und Neues erlebt.
Kim Todzi
Dann aber muss man eben schon ergänzend hinzufügen, dass ich glaube, Neugier auf etwas Fremdes überhaupt nicht schlecht ist. Das ist auch etwas, was ich nicht verurteilen würde. Und gerade die Auseinandersetzung mit dem Fremden führt ja dazu, dass man überhaupt anders umgehen kann. Auch mit der “Was ist denn eigentlich die eigene Identität?” Problematisch wird es, glaube ich, in dem Moment, wenn man sozusagen sich in gewisser Weise entkoppelt und das Fremde tatsächlich nur als Fremdes wahrnimmt, ohne dass man damit in irgendeiner Form eine Auseinandersetzung führt.
Anna Scholz
Hier finden wir eine Antwort darauf, wie wir aus unserer Schieflage zwischen Fernweh und Fremdenhass wieder rauskommen könnten. Zumindest auf individueller Ebene: im Surf-Urlaub nicht nur mit den anderen Westlern Zeit verbringen, sondern auch mal mit den dort lebenden Menschen reden. Die Gemeinsamkeiten zu sehen, nicht nur die Unterschiede. Ich weiß, das klingt jetzt wahnsinnig banal und es ist auch keine Garantie. Natürlich muss man dafür offen sein. Denn es ist gar nicht so einfach, Vorurteile abzuschütteln. Vor allem nicht, wenn wir in Deutschland damit schon so lange sozialisiert werden. Zum Beispiel die Idee, dass Menschen anderer, vermeintlich weniger zivilisierter Länder vom Westen gerettet werden müssen. Diese Idee haben wir heute noch.
Kim Todzi
Also das ist ja auch so ein beliebtes Freiwilliges Soziales Jahr. Ich gehe jetzt ein Jahr nach Afrika – unspezifiziert, wohin – ich gehe jetzt ein Jahr irgendwo nach Afrika und baue Brunnen. Und dann habe ich meinen Dienst an der Menschheit getan. Das ist eine – also ich will das gar nicht individuell verurteilen, aber es ist eine eigene Vorstellung davon, dass man sozusagen als Retter in eine Gesellschaft kommt, die eigentlich nicht selbst imstande ist, sich zu versorgen und die nicht für diese Dinge zuständig ist.
Anna Scholz
Das nennt man auch “White Saviour”-Komplex, und das ist unter anderem so stark, weil unsere Medien heute noch suggerieren, wie schlecht es um nicht-westliche Länder bestellt ist.
Kim Todzi
Wenn Sie sich mal die Berichterstattung über den afrikanischen Kontinent und verschiedene Länder im afrikanischen Kontinent in deutschen Medien anschauen, dann werden Sie feststellen, dass überwiegend wir eine reine Katastrophenberichterstattung vorfinden.
Anna Scholz
Ich probiere das mal aus und gehe auf tagesschau.de, Ende Februar 2025. Ich klicke auf das Ressort Afrika. Und tatsächlich, das sind die ersten Schlagzeilen: “Kongo und Ruanda: Angst vor einem regionalen Krieg” – dann: “Die Welt hat den Sudan vergessen”. Ich scrolle mal weiter: “Kampf gegen Genitalverstümmelung”. Und dazwischen gab es jetzt keine guten News. Klar, Nachrichtenformate haben die Tendenz eher von Negativem als Positivem zu berichten. Doch wie bei der Plakatkunst von 1900 stoßen wir dann auf dasselbe Problem: Wenn Leitmedien verknappt kommunizieren, dann haben wir keine komplexen Darstellungen anderer Kulturen. Die kriegen wir dann vielleicht, wenn wir gezielt Literatur lesen oder in all diese Länder reisen. Aber wer hat die Zeit und das Geld dafür? So bleibt schnell das Bild hängen: “Bei uns in Europa läuft zum Glück alles besser.”
Kim Todzi
Und diese, diese Vorstellung, dass die europäische politische und gesellschaftliche Kultur das Maß aller Dinge ist, zu der sich alle anderen Gesellschaften entwickeln müssten, ist eben eine Basis dafür, dass man auch heute noch sich sozusagen in einem Selbstbild verewigt, in dem die Europäer “Wir haben's geschafft, wir sind die beste jemals existierende Gesellschaft. Alle anderen Gesellschaften müssen sich an unserem Leitbild orientieren.”
Anna Scholz
So kommen wir schnell zu Vorstellungen, dass Menschen aus anderen Ländern vermeintlich unzivilisierter und damit sehr wahrscheinlich auch krimineller seien. Und sowas will die vermeintlich überlegene deutsche Kultur nicht zuhause haben. Was wir von früher lernen können, ist, dass wir immer noch in ziemlich alten Mustern festhängen.
Aber – und hier kommt ein gutes Aber! – wir sehen auch, dass wir weitergekommen sind. Fangen wir beim Bare Minimum an: Sklaverei wurde abgeschafft. Kolonialismus wurde abgeschafft. Und wenn es noch Formen dessen gibt, werden sie zumindest geächtet. Ich glaube auch, dass wir heute ein größeres Bewusstsein für Ungleichheiten haben. 2020 hat die “Black Lives Matter”-Bewegung in Nordamerika und Europa ein neue Welle der Anti-Rassismus-Bewegung losgetreten, bei der sich noch nie so viele weiße Allies gezeigt haben. Am 8. Februar 2025 haben in München auf der Theresienwiese über 250.000 Menschen gegen Rechts protestiert. Wie auch in vielen anderen deutschen Städten. Ich sehe es auch an mir persönlich: Ich hinterfrage sehr viel mehr meine Privilegien als weiße Westeuropäerin. Und das ist eine starke Möglichkeit, wie wir auf Augenhöhe kommen:
Kim Todzi
Ich glaube, wenn man ein Bewusstsein erstens für die Privilegien hat, das heißt die man nicht durch eigene Leistung, sondern nur durch den Zufall der Geburt erworben hat, wenn man sich dessen bewusst wird und dann sozusagen nicht versucht, in diese Falle des Rassismus zu tappen. Der sagt: ja und weil du weiß bist, bist du auch in irgendeiner Form besser. Dann glaube ich, ist es jetzt gar kein Problem, neugierig zu sein. Ich würde sagen, das ist etwas, was total gut ist.
Anna Scholz
Also Fernweh-Haben ist eine ziemlich gute Sache. Solange man nicht nur sein Gepäck, sondern auch die Scheuklappen am Flughafenschalter aufgibt. Okay, gerne auch schon zuhause aufgibt. Hier noch mal Susanne Glasl vom Münchner Stadtmuseum:
Susanne Glasl
Ich denke, wir sollten daraus lernen, dass ein Kulturtransfer auf Augenhöhe für alle beteiligten Kulturen letztendlich von größerer Bedeutung und von größerer Nachhaltigkeit ist als eine reine Ausbeutung und eine reine Aneignung gegen den Willen der ausgebeuteten Kultur. Ich denke, dass wir alle davon profitieren könnten, aus der Vergangenheit zu lernen und aus vergangenen Attitüden zu lernen.
Anna Scholz
Das hat uns diese Staffel auf jeden Fall gezeigt: Wir tragen heute noch Attitüden mit uns herum, die wir vor über 100 Jahren schon hatten. Die guten wie die schlechten. Und sie haben damals auch schon in all ihrer Widersprüchlichkeit gleichzeitig existiert: Wir haben eine Bewegung für und gegen Frauenrechte gesehen, für eine technische Innovation und gegen sie, für Fortschritt und für Rückschritt. Wir sind ständig in Bewegung und Gegenbewegung. Ich komme deshalb nicht drumrum zu denken: Sind wir verdonnert, in den ewig selben Zeitschleifen festzuhängen? Nur dass sie halt jedes Mal einen neuen Anstrich bekommen, dem Zeitgeist angepasst werden. Oder kommen wir wenigstens ein bisschen weiter?
Kim Todzi
ich glaube, wir sehen immer Druck von einer Seite, der mit Gegendruck von einer anderen Seite beantwortet wird. Und dadurch sehen wir schon so etwas wie eine gesellschaftliche Entwicklung Nur ist das eben auch nicht das Ende. Das heißt also, es modernisiert sich, es verändert sich.
Anna Scholz
Wir kommen also voran. Wenn auch, wie ich finde, sehr langsam. Aber darum wiederholt sich Geschichte auch nicht. Sie reimt sich nur. Zum Glück.
Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch zukünftig Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute und die erste Staffel war es das. Wir produzieren aber fleißig weiter und sind im Laufe des Jahres mit Staffel zwei zurück.
Wenn euch unsere Folgen gefallen haben, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Dann verpasst ihr auch die nächste Staffel nicht. Die genannten Werke findet ihr digital in den Shownotes und analog noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung “Jugendstil. Made in Munich”. Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt des Münchner Stadtmuseums und der Kunsthalle München. Schaut doch mal vorbei!
“Zeitschleifen” ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Anna Scholz und das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums, Autorin dieser Folge ist Janina Rook.
Zum Staffelfinale haben wir nicht nur ein, nein, zwei Goodies zum Abschied für euch!
Nummer eins kommt von Susanne Glasl: Nicht nur Europäer*innen hatten um 1900 rum Fernweh. Japaner*innen zum Beispiel auch.
Susanne Glasl
Das ist zum einen Kamisaka Sekka, ein berühmter japanischer Künstler und Designer. Der 1901 nach Glasgow gereist ist und dort mit der sogenannten New Art, also der neuen Art des Jugendstils, wie sie im englischsprachigen Raum genannt wurde, in Kontakt gekommen ist. Und tatsächlich vor allem mit der Bezeichnung New Art sehr perplex war. Weil er eben Elemente aus der japanischen Kunst und Prinzipien aus der japanischen Kunst in diesen Objekten gesehen hat, die seit Jahrhunderten in der japanischen Kunst angewendet werden. Also absolut tradierte Ikonografien. Und war da etwas vor den Kopf gestoßen.
Anna Scholz
Upsi, erwischt! – Und hier kommt unser zweites Goodie. Outtakes aus der Produktion unseres Podcasts. Viel Spaß! Und bis hoffentlich bald.
Besuchsinformation
Öffnungszeiten
Die Ausstellungen des Münchner Stadtmuseums sind aufgrund der Generalsanierung aktuell geschlossen. Das Kino des Filmmuseums bleibt weiterhin wie gewohnt bis Juni 2027 in Betrieb.
Informationen zur Von Parish Kostümbibliothek in Nymphenburg
Filmmuseum – Vorstellungen
Dienstag / Mittwoch 18.30 Uhr und 21.00 Uhr
Donnerstag 19.00 Uhr
Freitag / Samstag 18.00 Uhr und 21.00 Uhr
Sonntag 18.00 Uhr
Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln
S/U-Bahn Station Marienplatz
U-Bahn Station Sendlinger Tor
Bus 52/62 Haltestelle St.-Jakobs-Platz
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St.-Jakobs-Platz 1
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